Ist das schon Clickbait?
Zu allen Fragen des deutschen Bildungssystems im Allgemeinen und der Lehrer*innenbildung im Speziellen gibt es eine Vielzahl von Büchern unterschiedlicher Akteur*innen, die einen gewissen Einfluss auf bildungspolitische Diskussionen innerhalb der Medienlandschaft haben bzw. dies wollen. Diese Bücher kritisieren meist bestimmte Defizite und argumentieren davon ausgehend für bestimmte Veränderungen. Wie stichhaltig diese Argumentationen sind, hängt natürlich auch davon ab, wie zutreffend die vorherigen Analysen und Zustandsbeschreibungen sind. Ergebnisse empirischer Bildungsforschung können hierzu Einschätzungen ermöglichen, bspw. ob sie zutreffen oder ob überhaupt Erkenntnisse vorliegen.
Worum gehts?
In einer kleinen Beitragsreihe möchten wir uns mit einem solchen Buch beschäftigen, das sich neben dem Inhaltlichen auch aufgrund seines Clickbait-ähnlichen Titels perfekt für unseren Blog eignet ;). Es geht um „Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift“ von Heinz-Peter Meidinger (2021) erschienen im Claudius Verlag, München. Heinz-Peter Meidinger ist medial hauptsächlich bekannt als aktueller ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Der Lehrerverband ist eine Dachorganisation von vier bundesweiten Lehrkräfteverbänden, von denen der Deutsche Philologenverband e.V., in dem sich hauptsächlich Gymnasiallehrkräfte organisieren, sicherlich der bekannteste ist. Es ist also nicht möglich als Lehrkraft direkt Mitglied im Lehrerverband zu werden (wobei es auch weitere große Lehrkräfteverbände gibt, die nicht teil des Lehrerverbands sind). Man kann den Lehrerverband auch nach den formulierten Zielen hauptsächlich als eine Vernetzungs- und Abstimmungsorganisation der Mitgliedsverbände bezeichnen, die explizit Einfluss auf politische Entscheidungen zur Entwicklung des Bildungssystems nehmen möchte. Es geht also auch um Lobbyarbeit für bestimmte Ziele. Das Buch kann in diesem Kontext als möglicher Beitrag betrachtet werden, Diskussionen zur Schulpolitik anzuregen, verbunden mit dem Ziel, bestimmte Veränderungen erreichen zu wollen. Anzumerken ist allerdings, dass die im Buch enthaltenen Thesen, Argumente und Begründungen nicht als Positionen des Lehrerverbandes bezeichnet werden.
Der Autor selbst war Gymnasiallehrer und später auch lange Jahre Schulleiter in Bayern und ging im Sommer 2020 in den Ruhestand. Bevor er 2017 erstmalig als Präsident des Lehrerverbandes gewählt wurde, war Heinz-Peter Meidinger 13 Jahre lang Vorsitzender des deutschen Philologenverbandes. Er schreibt also aus der Perspektive des erfahrenen Gymnasialschulleiters mit vielfältigen Einblicken aus der Verbandsarbeit. Mehr erfährt man über ihn und seine Positionen auch auf Wikipedia ;).
Was passiert hier?
In dieser Artikelreihe möchten wir uns etwas differenzierter mit den Argumentationen im Buch aus Perspektive der empirischen Bildungsforschung auseinandersetzen. Dabei geht es uns weniger darum, eine eigene Bewertung der Thesen des Autors vorzunehmen, sondern eher zu prüfen, was man aus Ergebnissen der Bildungsforschung zu ihren Prämissen beisteuern kann oder nicht. Hierzu ist es natürlich sinnvoll, das Buch gelesen zu haben. Das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich empfehlen, auch wenn man vielleicht manche Position des Autors nicht teilt. Man kann durch die Auseinandersetzung auch die eigene Perspektive ausschärfen. Diese Beitragsreihe ist daher keine Rezension im engeren Sinne, sondern wir werden punktuell Aspekte herausgreifen, die sich sinnvoll auf Ergebnisse empirischer Bildungsforschung beziehen lassen. Jede „Todsünde“ bekommt dabei einen eigenen kurzen Beitrag, die in der Länge aber auch sehr variieren können (je nachdem, inwiefern sich inhaltlich anknüpfen lässt).
In diesem Beitrag geht es um das erste Kapitel, quasi das Vorwort, welches mit „Schulpolitik in der Krise“ überschrieben ist. Heinz-Peter Meidinger stellt darin zunächst Bedingungen heraus, die für das Feld der Bildungspolitik charakteristisch seien, z.B. dass das Bildungssystem hochkomplex und durch viele Interdependenzen geprägt sei. Er findet, das deutsche Schulsystem arbeite in vielen Bereichen sehr gut, aber Dinge, die schief laufen, müssten für eine Bestandsaufnahme herausgestellt werden. Die Sprache ist – negativ interpretiert – polemisch, – positiv interpretiert – ausdrucksstark, was sich auch darin zeigt, dass als Analogie für „[…] Konzepte, Reformen, politische Haltungen und Ideologien sowie wiederkehrende Verhaltensmuster, aber auch permanente Untätigkeit sowie bewusste Versäumnisse, die der Bildungsqualität in unserem Land schaden […]“ (Meidinger, 2021, 23) das Konzept der „Todsünde“ aus der katholischen Theologie verwendet wird. Aber es ist ja auch als Streitschrift angekündigt.
G9 zu G8 – Wie ist es gelaufen?
In diesem Vorwortkapitel fällt es schwer, Aussagen zu finden, die mit Bezug zu empirischen Forschungsergebnissen betrachtet werden können. Es enthält viele Meinungsäußerungen, die zumindest an dieser Stelle nicht anhand konkreter Beispiele begründet werden. Eine Ausnahme ist die Thematisierung der Umstellung vieler Bundesländer von einem neunjährigen (G9) hin zu einem achtjährigen Abiturbildungsgang (G8), als Beispiel für eine Veränderung der Schulstrukturen, die möglicherweise zu vielen negativen Nebenwirkungen führte. Heinz-Peter Meidinger nennt Folgende: Baubedarf an Mittagskantinen, mehrfache Überarbeitung der Lehrpläne auf Druck von Außen, weniger Nachwuchs in Sportvereinen, Kirchen bzw. in der Kinder- und Jugendarbeit, weniger junge Menschen nehmen eine duale Ausbildung auf.
Während mir zum Baubedarf keine Studien bekannt sind und Lehrplanüberarbeitungen je nach Bundesland mehr oder weniger häufig vorkamen (und man beides auch als positive Nebenwirkung sehen könnte, weil z.B. Lehrpläne an neue Rahmenbedingungen angepasst wurden), liegen zu den Auswirkungen auf das Freizeitverhalten von Jugendlichen und zur Ausbildungsneigung Analysen auf Basis empirischer Daten vor (vgl. Kühn et al., 2013). Die Ergebnisse zum Freizeitverhalten sind zusammengefasst uneindeutig (vgl. Meyer & Thomsen, 2015), was auch daran liegt, dass die Umstellung von G9 auf G8 nicht in allen Bundesländern gleich verlief, sich die Erfahrungen der Schüler*innen daher unterschieden und die Analysen auch methodisch variieren. Es wurde z.B. häufig mit Selbstauskünften zu vorgegebenen Freizeittätigkeiten gearbeitet, die von Schüler*innen in G9- oder G8-Ausbildungsgängen beantwortet und teils parallel, teils nacheinander erhoben wurden. Daher können die Ergebnisse auch am ehesten differenziert nach Art der Freizeittätigkeit dargestellt werden.
Für Aktivitäten im Sport konnten dabei überwiegend keine bzw. kaum Unterschiede im zeitlichen Umfang für G9- und G8-Schüler*innen festgestellt werden (Laging et al., 2014; im Brahm et al., 2013). Ebenfalls keine Unterschiede zeigen sich bzgl. anderer Tätigkeiten z.B. musischer Hobbys wie Orchester, Unternehmungen mit der Familie, Computer (z.B. Spielen) (Hübner et al., 2017). Stabile signifikante Unterschiede mit eher mittlerem Effekt zeigen sich vor allem für das Ausüben eines Nebenjobs, was häufiger von G9-Schüler*innen getan wurde (z.B. Hübner et al., 2017; Meyer & Thomsen, 2015) und ein Rückgang bzgl. ehrenamtlicher Tätigkeiten (wobei Sport hier noch einmal gesondert erfasst wurde), allerdings ausgehend von einem generell niedrigen Niveau (für Hessen: Meyer & Thomsen, 2015). Eine interessante Erkenntnis im Zusammenhang mit diesen Analysen ist, dass die Schüler*innen innerhalb der G8-Bildungsgänge Freizeit teilweise anders bewerteten bzw. einschätzten, als in G9-Bildungsgängen (Blumentritt et al., 2014). „Folglich scheint die konzeptionelle Engführung von Freizeit als Nicht-Schulzeit aus den exemplarisch ausgewählten Beschreibungen der Schülerinnen und Schüler beider Bildungsgänge nicht vollständig tragfähig.“ (Blumentritt, 2015, 150).
Bezogen auf die These, dass die duale Berufsausbildung unter der Umstellung gelitten habe, liegen kaum empirische Erkenntnisse vor. Marcus & Zambre (2017) berichten, dass nach Einführung der G8-Abiturbildungsgängen weniger junge Menschen ein Studium aufnahmen, was man allerdings nicht direkt so interpretieren kann, dass diese stattdessen eine Berufsausbildung aufnahmen. Es zeigt sich zudem eine Art Pausenjahr vor der Studienaufnahme. Die Entscheidung für ein Studium oder eine Berufsausbildung scheint eher von Faktoren abzuhängen, die unabhängig von der Art des Abiturbildungsgangs sind (vgl. Flake et al., 2017). In seiner Dissertation berichtet Meyer (2016) für Sachsen-Anhalt Analysen, die eher darauf hindeuten, dass G8-Schüler*innen tendenziell sogar vermehrt eine Berufsausbildung an ihr Abitur anschlossen.
Was lässt sich hieraus nun bzgl. der Thesen aus dem Buch schließen? Die Annahme, dass die Umstellung von G9 zu G8 negative Nebenwirkungen hatte, ist vor dem Licht der empirischen Daten teilweise zutreffend, aber nicht bzgl. aller genannten Nebenwirkungen. Die Situation ist in repräsentativeren Stichproben nicht so eindeutig wie suggeriert. Allerdings liegen auch insgesamt wenig empirische Analysen vor. Die erste Todsünde wird Gegenstand des nächsten Beitrags in dieser Artikelreihe sein. Er findet sich hier. Hintergründe zum Autor und zum Buch werden dort nicht noch einmal aufgeführt.
Literatur:
- Blumentritt, L. (2015). Veränderte Schulzeit–veränderte Freizeit? Freizeit im Kontext der gymnasialen Schulzeitverkürzung. In R. Freericks, & D. Brinkmann (Hrsg.), Die Stadt als Kultur-und Erlebnisraum – Analysen – Perspektiven – Projekte. 3. Bremer Freizeit-Kongress (S. 141-153). Institut für Freizeitwissenschaft und Kulturarbeit e.V. (Online)
- Blumentritt, L., Kühn, S. M., & van Ackeren, I. (2014). (Keine) Zeit für Freizeit? Freizeit im Kontext gymnasialer Schulzeitverkürzung aus Sicht von Schülerinnen und Schülern. Diskurs Kindheits-und Jugendforschung, 9(3), 15-16. (Online)
- Flake, R., Malin, L., & Risius, P. (2017). Einflussfaktoren der Bildungsentscheidung von Abiturienten für Ausbildung oder Studium. IW-Trends-Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung, 44(3), 99-115. (Online)
- Hübner, N., Wagner, W., Kramer, J., Nagengast, B., & Trautwein, U. (2017). Die G8-Reform in Baden-Württemberg: Kompetenzen, Wohlbefinden und Freizeitverhalten vor und nach der Reform. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 20(4), 748-771. (Online)
- im Brahm, G., Kühn, S. M., & Wixfort, J. (2013). Wie nehmen Schülerinnen und Schüler des doppelten Abiturjahrgangs die eigene Schulzeit wahr?: Eine geschlechtsspezifische Analyse der Schülerperspektive auf acht-und neunjährige Bildungsgänge am Gymnasium. Schulpädagogik heute, 4(8), 223-240.
- Kühn, S. M., van Ackeren, I., Bellenberg, G., Reintjes, C., & im Brahm, G. (2013). Wie viele Schuljahre bis zum Abitur? – Eine multiperspektivische Standortbestimmung im Kontext der aktuellen Schulzeitdebatte . Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 16(1), 115-136. (Online)
- Laging, R., Böcker, P., & Dirks, F. (2014). Zum Einfluss der Schulzeitverkürzung (G8) auf Bewegungs-und Sportaktivitäten von Jugendlichen. Sportunterricht, 63(3), 66-72. (Online)
- Marcus, J., & Zambre, V. (2017). Folge der G8-Schulreform: Weniger Abiturientinnen und Abiturienten nehmen ein Studium auf. DIW Wochenbericht, 84(21), 418-426. (Online)
- Meidinger, H.-P. (2021). Die 10 Todsünden der Schulpolitik – Eine Streitschrift. Claudius Verlag.
- Meyer, T. (2016). An evaluation of the shortened high school duration in Germany and its impact on postsecondary education and labor market entry. Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover. (Online)
- Meyer, T., & Thomsen, S. L. (2015). Schneller fertig, aber weniger Freizeit?–Eine Evaluation der Wirkungen der verkürzten Gymnasialschulzeit auf die außerschulischen Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler. Schmollers Jahrbuch, 135, 249-278. (Online)
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