Quereinstieg ins Lehramt im Licht der Bildungsforschung – 1/4

Notwendiges Übel oder Rettung der Unterrichtsversorgung?

Einbettung von: Deutschlandfunk, Campus & Karriere, Sendung vom 15.09.2021

Die Lehramtsausbildung war Thema in der Sendung Campus & Karriere beim Deutschlandfunk, genauer gesagt ging es um das Thema Quereinstieg ins Lehramt (Sendung vom 15.09.2021). Am Fall einer promovierten Kollegin aus der Germanistik werden verschiedene Schwierigkeiten verdeutlicht, die auftreten können, wenn man quer in den Lehrer*innenberuf einsteigen möchte. Hierbei wird insbesondere auf die fehlende Anerkennung von Qualifizierungen eingegangen und die Intransparenz der Prüfungsverfahren kritisiert. Dabei wird im Beitrag angesichts des hohen Bedarfs an Lehrkräften deutlich gemacht, dass zumindest für den diskutierten Fall nicht nachvollziehbar ist, warum die Studien- und auch weiterbildenden Leistungen der Kollegin nicht anerkannt werden und sie als Aushilfslehrkraft eingestellt wird. Zumal diese an der Universität selbst Lehramtsstudierende in Praxisphasen betreut hat.

Insgesamt wird das Thema Quereinstieg auch an anderer Stelle immer wieder kontrovers und auch emotional diskutiert. Dabei steht der Radiobeitrag exemplarisch für einige Fragen oder Thesen, die bei diesem Themenkomplex immer wieder angesprochen werden. Unbestritten ist meist, dass der Bedarf an Lehrkräften nicht vollständig durch Absolvent*innen von Lehramtsstudiengängen gedeckt werden kann bzw. wird. Was allerdings strittig diskutiert wird, ist, ob Quereinsteigende ins Lehramt ausreichend für den Beruf qualifiziert sind und auch einen vergleichbar guten Unterricht gestalten können. Oder anders gefragt: Welche Voraussetzungen sollen und müssen Personen mitbringen, die in den Lehrer*innenberuf quer einsteigen wollen? Viele wissenschaftliche Fachgesellschaften haben hierzu Positionspapiere verabschiedet, wie z.B. die Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD) im Positionspapier Ergänzende Wege der Professionalisierung von Lehrkräften, in dem als erste Leitlinie gefordert wird: „Die Standards einer akademischen Profession sind nicht verhandelbar. Sie gelten daher für
alle Professionalisierungswege.“ (GFD, 2018, S. 1). Gemein sind nicht nur akademische Standards, also ein Studium eines Faches an sich, sondern die akademischen Standards der Profession Lehrer*in.

Wie bei allen bildungspolitischen Fragen argumentieren alle Beteiligten ausgehend von bestimmten Annahmen oder normativen Setzungen. Ob diese Annahmen, wie bspw. die genannte, dass Quereinsteigende weniger qualifiziert seien, zutreffen, kann mit Methoden der empirischen Bildungsforschung untersucht werden. Hierbei muss zunächst differenziert werden. In den meisten Bundesländern wird zwischen zwei alternativen Wegen unterschieden, ohne grundständiges Lehramtsstudium in den Beruf einzusteigen. Zum einen den eigentlichen Quereinstieg, bei dem Personen ein nicht lehramtsbezogenes Studium absolviert haben und anschließend im typischen Modus den Vorbereitungsdienst bzw. das Referendariat absolvieren. Sie haben also die erste Phase der Lehramtsausbildung nicht durchlaufen, absolvieren aber die zweite Phase. Je nach Bundesland noch verbunden mit weiteren Qualifizierungsmaßnahmen (weil Lehrkräfte bspw. zwei Fächer unterrichten müssen und nicht nur eines). Zum anderen existiert aber auch das Modell des Seiteneinstiegs, bei dem Personen ohne lehramtsbezogenes Studium direkt im Schuldienst eingestellt werden und meist berufsbegleitend weitere Qualifizierungen erwerben. In Diskussionen ist es meist der Seiteneinstieg, der kontroverser diskutiert wird, da dort Einsteigende direkt (auch mit relativ hohen Stundendeputaten) unterrichten. Im Radiobeitrag wird z.B. nicht klar, um welchen Weg es sich handelt, wobei es sich so anhört, als ginge es eigentlich um einen Seiteneinstieg, also die direkte Einstellung in den Beruf. Und grundsätzlich stellt sich die Frage: Ist das Ganze eher ein Einzelfall oder handelt es sich um eine größere Gruppe von Lehrkräften?

Um wie viele Personen geht es überhaupt?

Empirisch ist es dabei zunächst einmal nicht so einfach, Informationen über die Gruppe der Quer- und Seiteneinsteiger*innen zu erhalten. Die Kultusministerkonferenz veröffentlicht regelmäßig Statistiken zur Einstellung von Personen in den Lehrer*innenberuf, die eine grobe Übersicht über den Umfang von Einstellungen von Lehrkräften über alternative Zugangswege ins Lehramt bieten . In den Tabellen zur Einstellung im Jahr 2020 wird deutlich, dass der Anteil an Seiteneinsteiger*innen je nach Bundesland und auch Unterrichtsfächern stark variiert (KMK, 2021, S. 37ff.). Die KMK selbst spricht nicht mehr von Seiteneinsteiger*innen, sondern von sonstigen (unbefristeten) Lehrkräften. Bundesweit betrug der Anteil an Seiteneinsteiger*innen im Jahr 2020 bspw. 10,2%, einem Wert, der ungefähr dem Mittel über die letzten vier Jahre entspricht. Der Anteil variiert dabei zwischen den Bundesländern von 0,4% in Hessen bis zu 47,6% in Sachsen-Anhalt (unsere Heimat NRW liegt bei 9,6%). Die Anteile in den Fächern werden leider nicht direkt ausgewiesen, aber die größten Zahlen liegen in den beruflichen Fächern für berufsbildende Schulen und den Naturwissenschaften. Die Zahlen für den Quereinstieg finden sich im Bericht an anderer Stelle (KMK, 2021, S. 61ff.) unter dem Stichwort der Einstellungen in den Vorbereitungsdienst mit nicht-lehramtsbezogenem Studienabschluss. Auch hierbei schwanken die Anteile an Quereinsteigenden von 0,0% in NRW und im Saarland bis 20,5% in Schleswig-Holstein. Hier werden allerdings nicht die Fächer aufgeschlüsselt, sondern die Zielschulformen, wobei auch hier das Lehramt für Primarstufe mit 18,0% den größten Anteil stellt. Dabei handelt es sich allerdings um Neueinstellungen und es fällt auf, dass die Zahl der Seiteneinsteiger*innen absolut weit größer ist als die Zahl der Quereinsteiger*innen.

Den Anteil an Lehrkräften im Schuldienst mit alternativem Zugangsweg festzustellen, ist insgesamt schwieriger. Für das Fach Physik (mein Hintergrund in der Lehrer*innenbildung) wurden Daten aus einer bundesweiten Befragung der Kultusministerien in der Quereinsteigerstudie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zusammengetragen (Korneck et al., 2010). Fasst man die Jahre 2002 bis 2008 zusammen, dann haben in 12 von 16 Bundesländern ca. 45% der neu eingestellten Lehrkräfte im Fach Physik einen Quer- oder Seiteneinstieg absolviert und sind wahrscheinlich noch tätig. Im repräsentativen Bildungstrend des Instituts zur Qualitätssicherung im Bildungssystem (IQB) aus dem Jahr 2018 (Stanat el al., 2019, S. 394), war der Anteil an tätigen (!) Lehrkräften mit Quer- oder Seiteneinstieg bundesweit 17,0% im Fach Physik . In Mathematik betrug er bspw. 8,7%, in Chemie 14,5%. Wie man hier schon feststellen kann, liegen insbesondere zu MINT-Lehrkräften detailliertere Daten vor.

Und was bringen sie so mit?

In Befragungen an Studienseminaren (basierend auf N = 223 Referendar*innen im Jahr 2009) konnten Lamprecht, Oettinghaus & Korneck (2011) weitere Informationen zu den Hintergründen von Quereinsteiger*innen erhalten. Sie haben z.B. ein leicht besseres Abitur im Vergleich zu Lehramtsstudierenden (Durchschnittsnote: 1,7 im Vergleich zu 1,9), waren (erwartungsgemäß) älter und haben meist schon eigene Kinder. Sie verfügen (auch erwartungsgemäß) über mehr Berufserfahrungen, wobei der Anteil von 26% an Personen ohne jegliche Berufserfahrung relativ hoch ausfiel. Haben Sie vorher an Hochschulen gearbeitet, weisen sie auch meist Lehrerfahrungen an der Hochschule auf. Im Prinzip also ein sehr ähnlicher Fall wie im Radiobeitrag. Ähnliche Studien für andere Fächer sind mir nicht bekannt und ich bin für Hinweise auf solche sehr dankbar.

Es lässt sich feststellen, dass die Betrachtung von alternativen Wegen ins Lehramt aus Sicht der Bildungsforschung schon auf Ebene der Demografie von Quer- und Seiteneinsteiger*innen schwer zu beantworten ist. Der Frage, ob sie sich auch hinsichtlich ihrer Kompetenzen (z.B. ihres professionellen Wissens) oder ihrer Einstellungen zum Unterricht von grundständig ausgebildeten Lehrkräften unterscheiden bzw. welche Erkenntnisse aus der Bildungsforschung hierzu vorliegen, wird im zweiten Beitrag zu diesem Thema aufgegriffen.

P.S. Liebe Grüße an die Kolleg*innen aus der Physikdidaktik in Frankfurt, auf deren Arbeit viele Ergebnisse zu Quer- und Seiteneinsteiger*innen basieren. Ich werde euch auch im nächsten Beitrag noch zitieren ;).

Literatur

  • GFD (2018). Ergänzende Wege der Professionalisierung von Lehrkräften. Positionspapier der GFD zur Problematik des Quer- und Seiteneinstiegs. (Online)
  • Korneck, F., Lamprecht, J., Wodzinski, R., & Schecker, H. (2010). Quereinsteiger in das Lehramt Physik – Lage und Perspektiven der Physiklehrerausbildung in Deutschland. Eine Studie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Deutsche Physikalische Gesellschaft. (Online)
  • KMK (2021). Einstellung von Lehrkräften 2020. (Online)
  • Oettinghaus, L., Lamprecht, J., & Korneck, F. (2011). Quereinsteiger und Lehramtsabsolventen im Fach Physik – Vergleich der Ausbildungswege und Berufsbiografien. In D. Höttecke (Hrsg.). Naturwissenschaftliche Bildung als Beitrag zur Gestaltung partizipativer Demokratie – Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik – Jahrestagung 2010 in Potsdam (S. 75-78). Münster: LIT.
  • Stanat, P., Schipolowski, S., Mahler, N., Weirich, S., & Henschel, S. (2019). IQB-Bildungstrend 2018. Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen am Ende der Sekundarstufe I im zweiten Ländervergleich. Münster: Waxmann. (Online)