Datenschutzrechtliche und forschungsethische Grundprinzipien der empirischen Forschung

Stefanie Meier

Das Praxissemester beginnt, Sie gehen Ihre ersten Schritte in Schule und eigenem Unterricht, knüpfen Kontakte zu Schüler/-innen, Lehrer/-innen und Eltern und sind darüber hinaus eifrig auf der Suche nach einer spannenden Forschungsfrage und adäquaten Erhebungsmethoden für Ihr Forschungsprojekt. Doch bevor Sie selbst als Forscher oder Forscherin tätig werden, sollten Sie sich Zeit für diesen Artikel und die Besinnung auf ethische und moralische Grundlagen nehmen.

Im Rahmen Ihrer empirischen Forschungsprojekte erheben Sie i.d.R. selbst Daten in sozialen Prozessen, das heißt Sie forschen über und mit Menschen. Diese Menschen sind keine Untersuchungsobjekte, die Ihnen als bloße Datenlieferanten dienen, sondern selbstbestimmte Subjekte, soziale Akteure und Experten/-innen ihrer eigenen Lebenswelt. Die Rechte der beforschten Personen haben für Sie als Forscher/-in oberste Priorität. In allen Entscheidungen, die Ihren Forschungsprozess betreffen, sind Sie verantwortlich für den Schutz dieser Rechte. Diese Aufgabe wirft ethische Fragen auf, die über gesetzlich geregelte datenschutzrechtliche Prinzipien hinausgehen. Die Forschungsethik beschreibt vielmehr die Beziehungen und Interaktionen zwischen Forschenden und Beforschten und reflektiert diese kritisch (vgl. Unger 2014, S. 1). Ethische Fragen stellen sich nicht nur zu Beginn des Forschungsprozesses und können dann getrost aus dem Blickfeld geraten, sondern sind in alle Phasen und Überlegungen bis zur Abgabe des Forschungsberichts miteinzubeziehen. Je nach Erhebungsmethode müssen Sie vielfältige Fragen an die Forschungsethik stellen: Ein anonymisierter Fragebogen bedarf anderer Überlegungen als eine verdeckte Beobachtung oder ein biografisches Interview. Die Involviertheit der Forschenden ist in der qualitativen Forschung oftmals größer (vgl. Unger 2014, S. 211).

 

Die Einhaltung der datenschutzrechtlichen Bestimmungen

Als rechtliche Grundlage dient Ihnen das Bundesdatenschutzgesetz, insbesondere der §4 zur „Zulässigkeit der Datenerhebung, -verarbeitung und –nutzung“. Hier wird geregelt:

„Die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten sind zulässig, soweit dieses Gesetz oder eine andere Rechtsvorschrift dies erlaubt oder anordnet oder der Betroffene eingewilligt hat.“

Die geforderte Einwilligung der Beforschten ist nur gültig, solange Sie freiwillig erfolgt ist. Sie sollten sich die Einwilligung am besten schriftlich unterzeichnen lassen. Berücksichtigen Sie bitte, dass bei Kindern und Jugendlichen eine erziehungsberechtigte Person diese Einwilligung unterschreiben muss. Nichtsdestotrotz ist es darüber hinaus unerlässlich, ebenfalls die freiwillige Teilnahme der Minderjährigen sicherzustellen. Es sollte sich zudem um eine informierte Einwilligung handeln, die für die Beforschten eine Transparenz über das Thema des Vorhabens, die Ziele des Projekts und die weitere Nutzung der Daten schafft (vgl. Helfferich 2011, S. 190). Mit dieser informierten Einwilligung stellen Sie sicher, dass die Beforschten Ihr Vorgehen und Ihre Absicht tatsächlich verstanden haben. Beschreiben Sie Ihr geplantes Vorgehen sowie Ihre gewählte Forschungsmethode und nennen Sie alle Personen, die am Forschungsprozess beteiligt sind wie bspw. Ihre Kommilitonen und Kommilitoninnen im selben Forschungsteam und die verantwortlichen Dozenten/-innen. Informieren Sie die Beforschten darüber hinaus über Ihr Vorgehen bzgl. der Aufbewahrung und Löschung der Daten. Bewahren Sie die Daten/Transkripte/Videodateien u. a. an einem sicheren Ort und strikt getrennt von der unterschriebenen Einwilligung auf, da sonst leicht Rückschlüsse auf die Identität der Probanden gezogen werden können. Sofern Ihnen die untersuchten Personen keine ausdrückliche Erlaubnis für eine langfristige Aufbewahrung erteilt haben, sind die Aufnahmen nach Abschluss des Projekts zu löschen. Falls Sie diese für weiterführende und aufbauende Projekte (z. B. Ihre Masterarbeit) sichern möchten, verfassen Sie einen entsprechenden Absatz für die informierte Einwilligung. Teilen Sie den Beforschten alle notwendigen Informationen gleich zu Beginn der Anfrage mit und lassen Sie sich die Unterschrift im Vorfeld der Erhebung geben, um eventuelle Fragen zu klären.

 

Die Sicherung der Nichtschädigung

Von höchster Bedeutung sollte für Sie die Schadensvermeidung bzw. Nichtschädigung der Beteiligten sein. Sie tragen die soziale Verantwortung, dass den Beforschten weder durch die Teilnahme noch durch die Nichtteilnahme am Projekt Nachteile entstehen könnten (vgl. Helfferich 2011, S. 190). Schäden der Privatsphäre können Sie durch eine Anonymisierung aller personenbezogenen Daten vermeiden. Sie verändern hierbei zum frühestmöglichen Zeitpunkt alle konkreten Personennamen, Ortsangaben und jegliche Daten, durch die Rückschlüsse auf reale Personen gezogen werden könnten. Falls es unerheblich für die Forschungsfrage sein sollte, haben Sie bspw. die Möglichkeit, Altersangaben nicht exakt zu benennen, sondern in Kategorien zusammenzufassen (Kindergartenkinder, Berufsschüler etc.) oder das Geschlecht der genannten Personen zu modifizieren. Zusätzlich ist Ihrerseits die Schweigepflicht gegenüber anderen Studierenden, Kollegen/-innen und Dozenten/-innen einzuhalten; hiervon kann Sie lediglich eine schriftliche Erlaubnis befreien.

Bitte beachten Sie, dass die Beforschten die Möglichkeit haben, ihr Einverständnis zu revidieren und Sie Ihnen dieses Recht zugestehen müssen. Eine größtmögliche Transparenz gleich zu Beginn des Projekts ist daher unerlässlich, damit die Zweifel und Ängste der Beforschten vorab gelöst werden können und nicht zu einem nachträglichen Rückzug der Einwilligung führen.

 

Die Relevanz der forschungsethischen Grundsätze

Neben den rechtlichen Regelungen existiert eine Vielzahl weiterer Kriterien, die in Form von Ethikkodizes (bspw. der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, der Deutschen Gesellschaft für Psychologie oder der Deutschen Gesellschaft für Soziologie) festgehalten werden. Grundlegend ist vor allem die Gleichbehandlung der Forschungsteilnehmer unabhängig Ihres Alters, der religiösen Überzeugungen, der sprachlichen Fähigkeiten, körperlicher Beeinträchtigungen, sexueller Orientierungen, ihrer Ethnizität oder des ökonomischen Status. Sie alle müssen in gleichem Maße würdevoll und gerecht behandelt werden. Alle Forschungsteilnehmer haben von Geburt an Rechte zur direkten oder indirekten, aktiven oder passiven Beteiligung am Forschungsprozess sowie das Recht auf eine freie Meinungsäußerung. Das Mitspracherecht in allen Entscheidungen, die die Beforschten betreffen, muss gewahrt werden. Besondere Sorgfalt ist bei allen vulnerablen Personen zu gewährleisten (vgl. EECERA 2014, S. 3). Gemeint sind abermals Minderjährige, aber auch Personen mit geistigen Erkrankungen oder aber auch mit Deutsch als Fremdsprache, sodass die Form der Informationsvermittlung auf die Kenntnisse und Bedarfe der Personen ausgerichtet sein muss. Ferner richten Sie sich als Forscher insbesondere in der qualitativen Forschung nach den Relevanzsystemen der Beforschten. Besonders in einer Interviewsituation ist es wichtig, dass Sie dem Gegenüber eine grundsätzliche Akzeptanz des Erzählten entgegenbringen und Ihre neutrale Haltung nicht durch Ihre persönliche Einstellung beeinflussen lassen.

 

Besonderheiten der Schul- und Unterrichtsforschung

Wenn Sie sich im Begleitforschungsseminar für ein Unterrichtsprojekt entschieden haben (und sich somit der höchst anspruchsvollen Aufgabe stellen, Ihren eigenen Unterricht zu erforschen) oder sich Ihre Fragestellung des Studienprojekts auf Aspekte von Fremdunterricht bezieht, sind bei der Aufzeichnung von Audio- oder Filmdateien im unterrichtlichen Kontext zusätzliche Schritte der Genehmigung zu gehen. Ziehen Sie hierfür den §120 „Schutz der Daten von Schülerinnen und Schülern und Eltern“ sowie den darauffolgenden §121 zum „Schutz der Daten von Lehrerinnen und Lehrern“ des Schulgesetztes NRW heran:

„Für Zwecke der Lehrerbildung sowie der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung dürfen vom Ministerium genehmigte Bild- und Tonaufzeichnungen des Unterrichts erfolgen, wenn die Betroffenen rechtzeitig über die beabsichtigte Aufzeichnung und den Aufzeichnungszweck informiert worden sind und nicht widersprochen haben.“

Auch wenn Sie sich für ein Studienprojekt im Schulkontext (bspw. mit dem Fokus Schulhof, Offene Ganztagsschule etc.) entschieden haben, sind die Genehmigungen vom Ministerium einzuholen. Sprechen Sie zu allererst die Schulleitung und Ihre Mentorin/Ihren Mentor an, um die nötigen Schritte zu klären. Ihre Ansprechpartner im nordrheinwestfälischen Ministerium für Schule und Weiterbildung bezüglich der Genehmigungen Ihrer Forschungsprojekte finden Sie im Referat für Grundsatzfragen der Lehrerausbildung.

 

Die adäquate Rückmeldung sensibler und konfliktgeladener Ergebnisse

Grundsätzlich ist die Zurückspiegelung der Ergebnisse (kommunikative Validierung) ein Verfahren zur Sicherung der Güte der gewonnenen Ergebnisse und zudem haben viele Beforschte großes Interesse an den Resultaten. Es kann jedoch vorkommen, dass die Ergebnisse ungünstig für die beteiligten Personen der Institution Schule ausfallen. Ein Beispiel wäre die negative Evaluation eines pädagogischen Konzeptes, welches von der Lehrkraft stets als erfolgreich eingeschätzt wurde. Um die Würde der Forschungsteilnehmenden zu wahren, gehen Sie bitte nicht leichtfertig mit Ihren Resultaten um, sondern suchen Sie Rat bei Ihrem Dozenten oder Ihrer Dozentin. Auch die Zurückspiegelung der Ergebnisse ist ein Prozess, dem ethische Grundfragen unterliegen.

 

Material

Im Folgenden finden Sie eine Möglichkeit für ein Informationsblatt, welches als Beispiel in Cornelia Helfferich (2011): Die Qualität qualitativer Daten aufgeführt wird:

Beispiel für ein Informationsblatt zum Verbleib bei den Erzählpersonen

Wir informieren Sie über das Forschungsprojekt, für das wir Sie gern interviewen möchten, und über unser Vorgehen. Der Datenschutz verlangt Ihre ausdrückliche und informierte Einwilligung, dass wir das Interview speichern und auswerten.Die verantwortliche Leitung des Projektes liegt bei … (Träger und Leitung), Kooperationspartner sind …. In dem Forschungsprojekt soll … (Zweck und Ziel des Forschungsvorhabens), befragt werden … (Befragtengruppe). Die Forschung findet statt im Rahmen von/wird gefördert durch/wurde in Auftrag gegeben von… Die Durchführung der Studie geschieht auf der Grundlage der Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes. Der Interviewer unterliegt der Schweigepflicht und ist auf das Datengeheimnis verpflichtet. Die Arbeit dient allein wissenschaftlichen Zwecken. Wir sichern Ihnen folgendes Verfahren zu, damit Ihre Angaben nicht mit Ihrer Person in Verbindung gebracht werden können:– Wir gehen sorgfältig mit dem Erzählten um: Wir nehmen das Gespräch auf Band auf. Das Band wird abgetippt und anschließend entweder gelöscht oder Sie können das Band bekommen. Auch die Abschrift können Sie bekommen (bzw. andere Handhabung der Datenverarbeitung).

– Wir anonymisieren, d.h. wir verändern alle Personen-, Orts-, Straßennamen. Alle Altersangaben werden um ein bis zwei Jahre nach unten oder oben verändert. Berufe werden durch andere vergleichbare Berufe ersetzt (bzw. andere entsprechende Anonymisierungsregeln).

– Ihr Name und Ihre Telefonnummer werden am Ende des Projektes in unseren Unterlagen gelöscht, so dass lediglich das anonymisierte Transkript existiert. Die von Ihnen unterschriebene Erklärung zur Einwilligung in die Auswertung wird in einem gesonderten Ordner an einer gesicherten und nur der Projektleitung zugänglichen Stelle (bzw. Datentreuhänder) aufbewahrt. Sie dient lediglich dazu, bei einer Überprüfung durch den Datenschutzbeauftragten nachweisen zu können, dass Sie mit der Auswertung einverstanden sind. Sie kann mit Ihrem Interview nicht mehr in Verbindung gebracht werden.

– Die Abschrift wird nicht veröffentlicht und ist nur projektintern für die Auswertung zugänglich. Die anonymisierte Abschrift wird von den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Projektes gelesen, die ebenfalls der Schweigepflicht unterliegen. In Veröffentlichungen gehen aber einzelne Zitate ein, selbstverständlich ohne dass erkennbar ist, von welcher Person sie stammen (eventuell ergänzt um Regelungen, ob sich die Datenhaltung nur auf das vorliegende Projekt oder auf anschließende Projekte bezieht und ob die Abschrift an Dritte außerhalb des Projektes weitergegeben werden kann. Es kann auch vereinbart werden, dass wichtige und gut formulierte Passagen Eingang finden in Lehrmaterial – natürlich ohne dass die Person identifizierbar ist). Wir möchten die anonymisierte Abschrift aufbewahren bis … /zugänglich machen für ….

Die Datenschutzbestimmungen verlangen auch, dass wir Sie noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass aus einer Nichtteilnahme keine Nachteile entstehen. Sie können Antworten auch bei einzelnen Fragen verweigern. Auch die Einwilligung ist freiwillig und kann jederzeit von Ihnen widerrufen und die Löschung des Interviews von Ihnen verlangt werden.

Wir bedanken uns für Ihre Bereitschaft, uns Auskunft zu geben, und hoffen, unsere wissenschaftliche Arbeit dient dazu…

 

Beispiel für eine Einwilligungserklärung

Forschungsprojekt………………………………….

– Einwilligungserklärung –

Ich bin über das Vorgehen bei der Auswertung der persönlichen, „freien“ Interviews mit einem Handzettel informiert worden (u.a.: die Abschrift gelangt nicht an die Öffentlichkeit, Anonymisierung bei der Abschrift, Löschung des Bandes bzw. Aushändigung, Löschung von Namen und Telefonnummer, Aufbewahrung der Einwilligungserklärung nur im Zusammenhang mit dem Nachweis des Datenschutzes und nicht zusammenführbar mit dem Interview). Ich bin damit einverstanden, dass einzelne Sätze, die aus dem Zusammenhang genommen werden und damit nicht mit meiner Person in Verbindung gebracht werden können, als Material für wissenschaftliche Zwecke und die Weiterentwicklung der Forschung genutzt werden können. Unter diesen Bedingungen erkläre ich mich bereit, das Interview zu geben und bin damit einverstanden, dass es auf Band aufgenommen, abgetippt, anonymisiert und ausgewertet wird.

 

Unterschrift ……………………………….. (Ort), den …………………………..

 

 

Literatur

Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (2005): Ethische Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V. und des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. Online verfügbar unter: http://www.bdp-verband.org/bdp/verband/ethik.shtml. Zuletzt aufgerufen: Juli 2015.

Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz: Bundesdatenschutzgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Januar 2003 (BGBl. I S. 66), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 25. Februar 2015 (BGBl. I S. 162) geändert worden ist. Online verfügbar unter: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/bdsg_1990/gesamt.pdf. Zuletzt aufgerufen: Juli 2015.

Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (2010): Ethikkodex der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft. Online verfügbar unter: http://www.dgfe.de/fileadmin/OrdnerRedakteure/Service/Satzung/Ethikkodex_2010.pdf. Zuletzt aufgerufen: Juli 2015.

Deutsche Gesellschaft für Soziologie (2014): Ethik-Kodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und des Berufsverbandes Deutscher Soziologinnen und Soziologen (BDS). Online verfügbar unter: http://www.soziologie.de/de/die-dgs/ethik/ethik-kodex.html. Zuletzt aufgerufen: Juli 2015.

European Early Childhood Education Research Association (EECERA (2014): Ethical Code for Early Childhood Researchers. Online verfügbar unter: http://www.eecera.org/documents/pdf/organisation/EECERA-Ethical-Code.pdf. Zuletzt aufgerufen: Juli 2015.

Helfferich, Cornelia (2011): Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften / Springer Fachmedien Wiesbaden, Wiesbaden.

Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen: Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (Schulgesetz NRW – SchulG) Vom 15. Februar 2005 (GV. NRW. S. 102) zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. Juni 2015 (GV. NRW. S. 499). Online verfügbar unter: https://www.schulministerium.nrw.de/docs/Recht/Schulrecht/Schulgesetz/Schulgesetz.pdf Zuletzt aufgerufen: Juli 2015.

Unger, Hella von; Narimani, Petra; M´Bayo, Rosaline (Hg.) (2014): Forschungsethik in der qualitativen Forschung. Reflexivität, Perspektiven, Positionen. Wiesbaden: Springer VS.

Qualitative Inhaltsanalyse

Stefanie Meier

Nachdem Sie nun Ihre Daten erhoben haben, besteht der nächste Schritt in der Auswertung eben dieser. Eine mögliche Auswertungsmethode stellt die Kodierung durch die qualitative Inhaltsanalyse dar, welche Ihnen im Folgenden in ihren Grundzügen näher vorgestellt werden soll. Das Ziel besteht darin, fixierte Kommunikation (Ihre Transkripte, Texte, Bilder, Noten, symbolisches Material etc.) zu analysieren, um infolgedessen Rückschlüsse zur Beantwortung der Forschungsfrage ziehen zu können. Angestrebt wird somit eine Reduzierung der Komplexität des Materials. Diese können Sie mithilfe eines Kategoriensystems erreichen, in welchem Sie diejenigen Aspekte festlegen, die für die Auswertung relevant erscheinen und aus dem Material herausgefiltert werden sollen. Eine präzise Beschreibung für den Begriff der Kategorie zu finden, ist alles andere als trivial: In der qualitativen Inhaltsanalyse wird eine Kategorie als ein Bezeichner (oder etwas Bezeichnendes) verstanden, dem Textstellen zugeordnet werden (vgl. Kuckartz 2007, S. 57). Teile des Textes werden also nach bestimmten Kriterien geordnet und durch Kategorien beschrieben. Es kann sich bei der Benennung dieser um ein einzelnes Wort (z. B. „Kompetenzentwicklung“) oder aber auch um eine Mehrwortkombination (z. B. Einstellungen zum Muttersprachenunterricht) handeln. Die Herangehensweise und die konkreten Schritte der Kategorienbildung sowie die Anzahl und der Aufbau des Kategoriensystems variieren je nach Forschungsgegenstand und –frage, sodass keine allgemeingültigen Richtangaben gemacht werden können.

Grundlegend bestehen zwei Möglichkeiten der Kategorienbildung: die deduktive und die induktive Vorgehensweise. Ihre Entscheidung für die eine oder die andere Vorgehensweise hängt von dem Umfang Ihres theoretischen Vorwissens und Ihres gewählten Erhebungsinstruments ab. Beiden gemein ist eine kontrollierte und regelgeleitete Vorgehensweise. Dabei schließen sich die zwei Strategien nicht gegenseitig aus, sodass auch eine Kombination beider möglich ist.

 

Deduktive Kategorienbildung:

Bei diesem von Mayring als Strukturierung bezeichnetem Verfahren werden die Kategorien vor der Analyse des Datenmaterials aufgestellt und definiert. Das Ziel ist die Extrahierung festgelegter Elemente aus dem Material. Es erfolgt ein Durchlauf durch die gesamten Daten hinsichtlich vorab beschlossener Strukturen. Aufgrund dieser Ordnungskriterien soll die Grundgestalt, das Profil des Materials, beurteilt werden (vgl. Mayring 2010, S. 65). Es bietet sich dann an, wenn Sie bereits über ein umfassendes Vorwissen verfügen, bereits Hypothesen bezüglich Ihres Forschungsgegenstandes aufgestellt haben oder aber ein (teil-)standardisiertes Erhebungsinstrument, wie beispielsweise einen Interviewleitfaden, verwendet haben. Die Kategorien können dann durch wichtige Aspekte aus der bereits bekannten Literatur zu dem jeweiligen Forschungsgegenstand und/oder anhand des verwendeten Datenerhebungsinstruments gebildet werden.

Im Folgenden sehen Sie einen Interviewleitfaden, welcher im Rahmen einer Staatsexamensarbeit zum Thema „Chancen und Grenzen des Erwerbs von interkulturellen Kompetenzen“ entstanden ist.

  1. Was verstehst Du unter dem Begriff interkulturelle Kompetenz?
  2. Welche Erfahrungen konntest Du bereits zum Thema ‚interkulturelle Kompetenz‘ an der Universität machen?
  3. Welche Möglichkeiten zum Erwerb interkultureller Kompetenz an der Universität kennst Du noch?
  4. Welche Wünsche/Anregungen/Verbesserungsvorschläge hast Du für die Uni in dem Bereich Förderung von interkultureller Kompetenz?
  5. Welche Bedeutung hat für Dich interkulturelle Kompetenz in deiner zukünftigen Lehrerrolle?
  6. Was bedeutet es für Dich, wenn eine Klasse von vielen Schüler/innen mit Migrationshintergrund besucht wird?

 

 

Im Falle dieses Leitfadens lassen sich nun deduktiv unter anderem die folgenden Oberkategorien ableiten:

  • Begriffsverständnis interkulturelle Kompetenz
  • Thematische Erfahrungen
  • Möglichkeiten zum Erwerb interkultureller Kompetenz

 

Nachdem Sie nun deduktiv einige Kategorien erstellt haben, sichten Sie Ihr Datenmaterial und ordnen alle relevanten Textstellen den passenden Kategorien zu. Diesen Vorgang nennt man Kodierung. Hierfür existiert entsprechende Software (s. u.), allerdings eignet sich für schmalere Datenmengen ebenso die Arbeit mit Papier und farbigen Stiften für die verschiedenen Kategorien. Die Kodierung eines Textabschnittes mit mehreren Kategorien ist zulässig, da in ein und derselben Textstelle verschiedene Themen angesprochen werden können.

Im nächsten Schritt halten Sie Ihr Vorgehen in einem Kodierleitfaden fest, um eine möglichst präzise Formulierung der Kategorien zu erreichen und unnötige Überschneidungen zu vermeiden.

  1. Definition der Kategorien: Es wird definiert, welche Bestandteile unter eine Kategorie fallen sollen.
  2. Ankerbeispiele: Es werden konkrete Textstellen aus dem Protokoll oder Transkript des Interviews als Musterbeispiele für die Kategorie angeführt.
  3. Kodierregeln: Dort, wo Abgrenzungsprobleme zwischen einzelnen Kategorien bestehen, werden Regeln formuliert, um eindeutige Zuordnungen sicherzustellen (vgl. Mayring 2010, S. 106).

Dieser Kodierleitfaden dient als Handreichung sowohl für Sie selbst als auch für alle anderen Forschenden, welche in die Auswertung der Daten involviert sind oder es zukünftig sein könnten. Um eine hinreichende Güte bei der Anwendung der Kategorien zu erreichen, sollten die Kodierungen der verschiedenen Forscherinnen und Forscher unabhängig voneinander weitestgehend übereinstimmen. Diese Forderung entspricht dem Gütekriterium der Intercoder-Reliabilität.

 

Beispiel für einen Kodierleitfaden aus der oben genannten Staatsexamensarbeit:

Kategorie Definition Ankerbeispiel Kodierregeln
Begriffsverständnis interkulturelle Kompetenz Alle Textstellen, die auf eine Deutung des Begriffs interkulturelle Kompetenz hinweisen B1: „Dass man weiß, wo es vielleicht so Schwächen gibt, die nur von bestimmten Ländern, also wie sagt man das, also dass die Leute aus einem bestimmten Land eben genau diese Schwäche haben.“B2: „Dass man im Lehrerberuf eben kompetent ist, […] sich eben Kindern aus verschiedenen Migrationen, […] auseinanderzusetzen und ja, versucht, sag ich mal, deren Verhaltensweisen nachzuvollziehen und irgendwie vor diesem Hintergrund einordnen zu können.“ Nur inhaltliches Verständnis des Begriffs, keine wertenden Äußerungen
ThematischeErfahrungen

 

 

Induktive Kategorienbildung:

Bei der induktiven Vorgehensweise werden die Kategorien nicht vor der Sichtung des Materials erstellt, sondern direkt aus dem Material abgeleitet, ohne sich auf vorab verwendete Theoriekonzepte zu beziehen. Mayring bezeichnet diese Art der Kategorienbildung als zusammenfassende Inhaltsanalyse. Das Ziel besteht in der Eingrenzung der Textelemente, ohne den inhaltlichen Kern und die Essenz des Materials zu verfälschen. Durch diese Reduzierung soll eine Übersichtlichkeit der Daten erzeugt werden, welche immer noch der Grundform des Materials entspricht (vgl. Mayring 2010, S. 65). Für diesen Typ der Analyse sollten Sie zunächst die einzelnen verschriftlichten Interviewaussagen aus Ihren Transkripten in eine reduzierte Form bringen, indem Sie nur die inhaltstragenden Bestandteile beibehalten und Ausschmückendes fallen lassen. Sich aufeinander beziehende oder inhaltsgleiche Aspekte werden zusammengefasst und durch eine neue Aussage (Kategorie) wiedergegeben. Entsprechende Stellen im Material werden nun der neu gebildeten Kategorie zugeordnet, also kodiert. Stoßen Sie auf Stellen im Datenmaterial, welche nicht in die zuvor gebildete Kategorie passen, bilden Sie eine neue Kategorie. Wiederholen Sie dieses Vorgehen mit Ihren restlichen Daten. Nachdem Sie nun auf diesem Wege ein Kategoriensystem entwickelt haben, empfiehlt sich eine Rücküberprüfung der entworfenen Struktur durch einen zweiten Materialdurchlauf.

 

Fall Zitat Paraphrase Generalisierung Kategorie
B9Zeile 40-43 „Ganz wichtig natürlich als Lehrer ist diese Offenheit, nicht dieses von oben herab, sondern wirklich auch den Eltern das Gefühl zu geben, hier ist es auch wichtig bei uns in Deutschland, für uns wichtig an Erfahrung mit den Eltern zusammenzuarbeiten, um den Kindern das Bestmögliche für die Zukunft mitzugeben.“ Für eine Lehrperson ist die Offenheit zur Zusammenarbeit mit den Eltern wichtig für die Zukunft der Kinder. Bereitschaft der Lehrperson für die Partizipation der Eltern. Verhalten der Lehrperson
B9Zeile 44-52

 

Verbindung von deduktivem und induktivem Vorgehen

Innerhalb von Forschungsprojekten werden häufig beide Formen kombiniert und nicht immer in Reinform vollzogen. Wenn Sie zunächst die deduktive Kategorienbildung gewählt haben, bilden Sie neben den aus der Theorie oder dem Erhebungsinstrument erstellten Kategorien eine „Restekategorie“. Unter diese fällt das Datenmaterial, welches keiner der deduktiv erstellten Kategorien zugeordnet werden kann. Durch eine Reduktion des Materials aus der Restekategorie auf die zentralen bedeutungstragenden Aussagen (im Sinne der zusammenfassenden Inhaltsanalyse) werden neue Kategorien und Subkategorien induktiv gebildet.

Das gesamte Kategoriensystem kann nun in Bezug auf die Fragestellung und die einbezogene Theorie interpretiert werden. Zudem können Sie auch quantitative Aspekte bei der Auswertung berücksichtigen und analysieren, welche Kategorien sehr oft kodiert werden, für welche es weniger Fundstellen gibt und welche Rückschlüsse aus diesen Ergebnisse gezogen werden können.

 

Softwareempfehlungen:

Für geringere Datenmengen eignen sich übliche Textverarbeitungsprogramme wie Microsoft Word, OpenOffice und andere Open Source-Software. Umfangreichere Möglichkeiten zur Kodierung Ihrer Daten bieten Analyseprogramme wie f4analyse oder MAXQDA. Die direkte Einbindung von Audio- oder Videodokumenten sowie der Export in weitere Programme wie Excel oder SPSS sind hier möglich. Informieren Sie sich über kostenfreie Testversionen oder Studierendenlizenzen an Ihrer Universität.

https://www.youtube.com/watch?v=kyAruQIHkjw

 

Literatur:

Kuckartz, Udo (2012): Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Kuckartz, Udo (2007): Einführung in die computergestützte Analyse qualitativer Daten. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Mayring, Philipp (2010): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 11., aktualisierte und überarb. Aufl. Weinheim: Beltz.

Mayring, Philipp; Gläser-Zikuda, Michaela (Hrsg.) (2008): Die Praxis der qualitativen Inhaltsanalyse. 2., neu ausgestattete Aufl. Weinheim und Basel: Beltz.

 

 

Mündliche Befragung

Stefanie Meier

Eine mündliche Befragung ist durch die Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Personen  definiert, aufgrund dessen zwischen Einzel- und Gruppeninterviews unterschieden werden kann (für die Gruppendiskussion als eine Art des Gruppeninterviews siehe Gruppendiskussion). Durch gezielte verbale Stimuli bzw. Fragen werden verbale Reaktionen bzw. Antworten hervorgerufen. Dies geschieht in ganz bestimmten (geplanten) Situationen und wird durch gegenseitige Erwartungen der beteiligten Personen geprägt. Die Antworten des Befragten beziehen sich auf erlebte sowie erinnerte soziale Erlebnisse und stellen Beschreibungen, Meinungen und Bewertungen dar (vgl. Atteslander 2008, S. 101). Die Methode des Interviews ist daher als eine verabredete Zusammenkunft mit wissenschaftlicher Zielsetzung gekennzeichnet. Der Informationsfluss ist zumeist einseitig, da das Interview der Erhebung von Daten dient, welche nur den Befragten und nicht den Interviewer betreffen.

Im Fokus qualitativer Interviews stehen in Abgrenzung zu quantitativen Forschungsmethoden die soziale Wirklichkeit sowie die Definition dieser durch die Befragten selbst. Die subjektiven Sichtweisen der Befragten bilden den inhaltlichen und strukturellen Rahmen des Gesprächs, in welchem die Zielsetzung die Genese von Hypothesen darstellt. Bei quantitativen Befragungen steht eher die Überprüfung von vorab formulierten Hypothesen im Vordergrund. Im Gegensatz zu quantitativen Interviews zeichnet sich das qualitative Verfahren durch eine offene und flexible Gesprächsgestaltung aus, dessen Verlauf keiner Standardisierung unterliegt und einen Anspruch auf Vergleichbarkeit und Kontrollierbarkeit ablehnt. Die Rolle der Interviewerin/des Interviewers ähnelt während der Befragung eher der einer Gesprächspartnerin/eines Gesprächspartners im Alltag. Bedenken Sie jedoch, dass Sie als Interviewer die Aussagen der Befragten unbeabsichtigt lenken und somit eine beeinflussende Wirkung auf den Verlauf des Gesprächs und den Inhalt haben könnten. Informieren Sie sich deshalb im Vorfeld des Interviews über die das Stichwort ,Interviewereffekte`.

 

Interviewformen

Die folgende Zusammenstellung bildet einige bekannte Interviewformen ab. Es existieren zahlreiche weitere unterschiedliche Variationen, welche sich u. a. durch den Grad der Standardisierung, somit ihrer Orientierung an einem Leitfaden bzw. ihrer Offenheit, unterscheiden. Ferner variieren Interviews nach der Art der Durchführung: im direkten Face-to-Face-Gespräch, per Telefon oder computergestützt. Eine umfangreiche Übersicht von Varianten mündlicher Einzelinterviews finden Sie bspw. in Bortz, J./Döring, N. (2006). Die Entscheidung für eine bestimmte Interviewform ist von der Fragestellung, dem Erkenntnisinteresse und der zu befragenden Zielgruppe der Studie abhängig.

Standardisierte Interviews

Bei dieser Interviewform sind die Formulierung und die Reihenfolge der Fragen für den Interviewenden bei jeder Befragung obligatorisch und nicht veränderbar (Standardisierung). Im Vorfeld müssen daher die Frageformulierungen exakt verfasst werden. Das Erhebungsinstrument bedarf reiflicher Vorüberlegungen und Erprobungen (Pretests) im Forschungsfeld, um die Eignung vorab zu prüfen und ggf. eine Modifizierung vornehmen zu können. Standardisierte Interviews bieten sich für präzise abgegrenzte Themenbereiche an, bezüglich derer der Forschende bereits über umfassende Kenntnisse verfügt (vgl. Bortz/Döring 2006, S. 237ff.).

Teilstandardisierte Interviews

Wie Sie der Bezeichnung bereits entnehmen können, haben teilstandardisierte Interviews einen (mehr oder weniger) offenen Leitfaden gemeinsam. Zu den populäreren Varianten zählen bspw.:

  • das problemzentrierte Interview, bei welchem der Ausgangspunkt eine vom Forscher wahrgenommene gesellschaftliche Problemstellung darstellt (z. B. Hürden beim Übergang Kita Grundschule). Diese Interviewform könnte geeignet sein, wenn Sie bereits über ein vertieftes theoretisches Vorwissen bezüglich des Forschungsgegenstandes verfügen.
  • das fokussierte Interview, das bedingt durch seinen Ursprung in der Medienforschung eher auf die Überprüfung vorab generierter Hypothesen abzielt. Der Fokus liegt bei dieser Interviewform auf einer gemeinsamen Erfahrung aller Befragten (bspw. der Bezug auf einen gemeinsam angesehen Film in der Schulklasse, Bücher, Fotos, Zeichnung etc.). Das Ziel ist die Erforschung der subjektiven Deutungen der Befragten hinsichtlich der gemeinsam erlebten Situationen oder Objekte.
  • das Experteninterview, bei welchem die Deutung spezialisierter Kenntnisse im Mittelpunkt steht. Die Zielgruppe stellen Personen mit hoher Expertise dar wie Inhaber von Führungspositionen, erfahrene und fachkundige Praktiker sowie Experten in jeglichen Fachbereichen. Durch diese Interviewform können praxisrelevantes Wissen, bewährte Routinen und erprobte Prinzipien bzw. Richtlinien ergründet werden.

 

Das narrative Interview

Das geringer vorstrukturierte narrative (erzählende) Interview steht in der Tradition von Fritz Schütze und findet seinen Einsatz im Rahmen lebensgeschichtlicher Fragestellungen. Durch eine erzählgenerierende Frage bzw. einen Erzählstimulus sollen beim Interviewten eine biografische Erzählung, eine sogenannte Stegreiferzählung, angeregt werden. An die Haupterzählung des Befragten, dem wichtigsten Interviewabschnitt, gliedert sich eine Phase für offen gebliebene Fragen und Bilanzierungen an. Für die Befragung von Personen unter 10 Jahren ist die Eignung des narrativen Interviews umstritten, achten Sie in diesem Fall besonders auf die kindgerechte Auswahl und Formulierung des Erzählstimulus (vgl. Heinzel 2003, S. 403).

Das psychoanalytische Tiefeninterview

Dieses bildet die offenste und am geringsten vorstrukturierte Interviewvariante. Psychologisch orientierte Gespräche mit therapeutischen bzw. diagnostischen Zielen sollen unbewusste Ängste, Konflikte oder Bedeutungsstrukturen der Interviewten offenlegen. Dabei werden alle Äußerungen oder Interaktionen als Mittelungen angesehen. Insbesondere bei Kindern eignet sich die Nutzung von Traumreisen oder selbsterstellten Bildern (vgl. Heinzel 2003, S. 404).

 

Besonderheiten und Herausforderungen bei Interviews mit Kindern

Interviews mit Kindern unterliegen anderen Anforderungen als Interviews mit Erwachsenen. Die Notwendigkeit einer adressatengerechten Befragung ist somit unerlässlich.  Auf folgende Aspekte sollten Sie besonders achten:

  • Es besteht ein Dilemma in der Kindheitsforschung: Jede Form der kindgerechten Methode setzt ein bestimmtes Kindheitsbild voraus und läuft damit Gefahr, dieses zu reproduzieren (vgl. Fuhs 2000, S.92). Sie sollten daher Ihre eigenen Annahmen und impliziten Theorien über das Kind/die Kindheit während des Forschungsprozesses offenlegen und so weit wie möglich reflektieren.
  • Sprachliche Fähigkeiten sind bei Kindern von der Entwicklung abhängig und individuell unterschiedlich ausgeprägt. Das Sprachverstehen geht der Sprachproduktion voraus. Beachten Sie daher Geschlechts-,  kulturelle und milieuspezifische Unterschiede. Durch den kindlichen Egozentrismus erscheinen kindliche Aussagen teilweise fragmentarisch oder unvollständig. Kinder gehen zudem von einem allwissenden Erwachsenen aus, aufgrund dessen die Kinder viele Informationen als überflüssig einschätzen und diese den Erwachsenen vorenthalten (vgl. Delfos 2008, S. 52f.).
  • Ein Interview stellt komplexe Anforderung an das Arbeitsgedächtnis von Kindern (Frage merken, Inhalte aus dem Langzeitgedächtnis erinnern, Antworten überlegen und formulieren). Die Erinnerungsdauer von zeitlich zurückliegenden Ereignissen ist abhängig von der subjektiven Bedeutsamkeit, der Intensität des Erlebens (positiv oder negativ), der Auftretenshäufigkeit des Ereignisses sowie dem Alter der Kinder (vgl. Schneider & Lindenberger 2012, S. 420). Berücksichtigen Sie dies bei Ihrer Frageformulierung.
  • Bei irreführenden Fragen sinkt die Validität der Aussagen. Besonders junge Kinder sind empfänglich für Suggestibilität, diese nimmt bei persönlich erlebten und bedeutsamen Erlebnissen jedoch ab. Die Möglichkeit zu „weiß-nicht“-Antworten und die Vermeidung von Suggestivfragen steigern die Aussagegenauigkeit und die Glaubwürdigkeit (vgl. Schneider & Lindenberger 2012, S. 420).
  • Das Generationenverhältnis: Als Erwachsene haben fast alle Interviewer/-innen neben ihrer Rolle als Informationsermittler eine weitere – die von Erziehern. Hier liegt der zentrale Unterschied zwischen dem Kinderinterview und Erwachseneninterview. Über dem Informationsaustausch im Kinderinterview schwebt ein „didaktisches Weltbild“ (Lothar Klingberg 1987). Danach haben Erwachsene subjektive Theorien, wie mit Heranwachsenden lehrend und lernend umzugehen sei. Um die Gefahr der Pädagogisierung zu vermeiden, streben Sie ein Gespräch auf Augenhöhe an (vgl. Trautmann 2010, S. 3f.).
  • Die Bedeutung von Metakommunikation: Schaffen Sie Transparenz und versuchen Sie, die Ängste der Kinder abzubauen. Behalten Sie die Dauer des Interviews im Blick und bauen Sie falls nötig Pausen ein. Schaffen Sie zudem eine vertrauensvolle Atmosphäre, um eine adressatengerechte Befragung zu ermöglichen.
  • Systematisierungen vorfindbarer Interviewvarianten in der Kindheitsforschung leisteten bislang u. a. Frederike Heinzel (Kategorisierung nach dem Grad der Standardisierung (vgl. Heinzel 2003)) sowie Burkhard Fuhs (nach der Art des Erinnerns (vgl. Fuhs 2000)).

 

 

Softwareempfehlungen

Sofern eine – auf Basis forschungsethischer und datenschutzrechtlicher Grundlagen – formulierte Einverständniserklärung von den Befragten bzw. den Erziehungsberechtigten unterschrieben vorliegt, sollten Sie das Interview in Ton und/oder Bild aufzeichnen. Für eine Tonaufnahme können sie ein herkömmliches Diktiergerät oder eine derartige Funktion auf Ihrem Mobilfunkgerät nutzen. Für die Aufzeichnung mithilfe eines Laptops empfehlen sich kostenlose Audioeditoren und –recorder wie bspw. Audacity. Der darauffolgende Schritt besteht in der Transkription der Aufnahmen (Transkription).

 

Ausgewählte Beispiele für den Einsatz qualitativer Interviews

Weltzien, D. (2012): Gedanken im Dialog entwickeln und erklären: Die Methode dialoggestützter Interviews mit Kindern. Frühe Bildung, 1 (3), 143 – 149.

 

World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.) (2013): Wie gerecht ist unsere Welt. Kinder in Deutschland 2013. 3. World Vision Kinderstudie. Beltz Verlag.

 

Kinder rechnen anders. Ein Projekt zur Weiterentwicklung der Grundschullehrerausbildung: Auf der Homepage befinden sich Videomitschnitte klinischer Interviews mit Kindern. http://www.kira.uni-dortmund.de/front_content.php

Weise, M. (2008): Der Kindergarten wird zum „Forschungsort“ – Das Puppet Interview als Forschungsmethode für die Frühe Bildung. Ludwigsburger Beiträge zur Medienpädagogik. Ausgabe 11.

 

Literatur

Grundlagenliteratur

Atteslander, Peter (2008): Methoden der empirischen Sozialforschung. 12., durchges. Aufl. Berlin: Erich Schmidt (ESV basics).

Bortz, J./Döring, N. (2006): Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, Berlin: Springer, S. 115.

Friebertshäuser, Babara/ Langer, Antje (2010): Interviewformen und Interviewpraxis. In: Friebertshäuser, Babara/ Langer, Antje/ Prengel, Annedore (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. 3., vollständig überarbeitete Auflage. Weinheim/ München: Juventa Verlag, S. 437- 455.

Helfferich, C. (2009). Die Qualität qualitativer Daten. Kapitel 1.1: Der Gegenstand qualitativer Forschung und Grundprinzipien (S.21-25). Wiesbaden: VS.

Trautmann, T. (2010). Interviews mit Kindern. Grundlagen, Techniken, Besonderheiten, Beispiele. Wiesbaden: VS. (Online Ressource der UB)

Weiterführende Literatur

Andresen, S. (2012). Was und wie Kinder erzählen. Potenzial und Grenzen qualitativer Interviews. Frühe Bildung, 1 (3), 137 – 142.

Delfos, M. F. (2013). Sag mir mal … Gesprächsführung mit Kindern (4 bis 12 Jahre). Weinheim und Basel: Beltz.

Fuhs, B. (2000). Qualitative Interviews mit Kindern. In Frederike Heinzel (Hrsg.)(2000):  Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Weinheim und München: Juventa Verlag, S. 87-103.

Fuhs, B./Schneider, S. (2012): Normalisierungsvorstellungen und Adultismus als Probleme für die erzählerische Erschließung frühkindlicher Lebenswelten. Frühe Bildung, 1 (3), 125 – 130.

Heinzel, F. (Hrsg.) (2000). Methoden der Kindheitsforschung . Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Weinheim und München: Juventa.

Heinzel, F. (2003). Qualitative Interviews mit Kindern. In B. Friebertshäuser & A. Prengel (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (S. 396-413). Weinheim: Juventa.

Nentwig-Gesemann, I./Mackowiak, K. (2012). Schwerpunkt: Interviews mit Kindern – methodische Herausforderungen und Potenziale. Frühe Bildung, 1 (3), 121 – 124.

Schneider, W./Lindenberger, U. (2012). Gedächtnis. In Wolfgang Schneider und Ulman Lindenberger (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (S.413-431). Weinheim: Belz.