Grounded Theory

Julia Steinhausen & Tamara Ihln

 

„Die Grounded Theory ist eine qualitative Forschungsmethode bzw. Methodologie, die eine systematische Reihe von Verfahren benutzt, um eine induktiv abgeleitete, gegenstandsverankerte Theorie über ein Phänomen zu entwickeln“ (Strauss/Corbin 1996, S. 8).

 

Wie das Zitat eingangs zeigt, kann mit Grounded Theory Unterschiedliches gemeint sein, denn man unterscheidet hierbei zwischen der Methodologie und der Methode. Die Methodologie, im Sinne eines Forschungsstils, stellt spezielle Anforderungen an den Forschungsprozess, die im Folgenden erörtert werden. Will man die Grounded Theory als Methode der Auswertung verwenden, so bieten sich bestimmte Verfahrensweisen an, auf die ebenfalls eingegangen wird. Nach der Darstellung des Kodierprozesses, werden Ihnen einige Fragen bereitgestellt, die Ihnen dabei helfen können, den Forschungsprozess zur Theorieentwicklung zu überprüfen.

Da es sich bei der Methode der Grounded Theory um eine komplexe Methodologie und eine aufwendige Methode handelt sowie der Kodierprozess nach Strauss/Corbin einige Zeit in Anspruch nimmt, ist sie für Abschlussarbeiten, die auf wenige Monate begrenzt sind, weniger geeignet. Dennoch können der Kodierprozess nach Strauss & Corbin sowie die dahinterliegende Haltung wertvolle Anregungen bieten und stellen damit eine sinnvolle Alternative zu anderen Auswertungsmethoden dar.

Die Grounded Theory wurde in den 60er Jahren von den Soziologen Barney Glaser und Anselm Strauss entwickelt (Originalwerk: 1967, deutsche Fassung: 1998). Im Laufe der Zeit haben sich einige Weiterentwicklungen und Modifikationen dieser Methode ergeben (vgl. Mey/Mruck 2007). Die Grounded Theory als Methodologie (GTM) ist vor allem für explorative Forschungsfragen geeignet und für solche, die eine Prozess- und Handlungsorientierung beinhalten (vgl. Strauss/Corbin 1996, S.23). Ziel der GTM ist die Entwicklung einer gegenstandsverankerten[1] Theorie, womit sie zu den theoriegenerierenden Methoden zählt, bspw. im Gegensatz zur Qualitativen Inhaltsanalyse.

Die GTM gibt eine bestimmte Systematik vor, die jedoch in Bezug auf die Forschungsfrage angepasst werden kann und somit dem Forscher/der Forscherin Freiheiten und Kreativität ermöglicht (vgl. Mey/Mruck 2007). Die Anwendung der GTM gewährt Ihnen Einblicke in innere Zusammenhänge Ihres Untersuchungsbereichs sowie Wege zur Gewinnung von Hypothesen während des Forschungsprozesses, die wiederum am Material geprüft werden. Somit bleibt der Kontakt zum empirischen Material stets erhalten.

Den Ausgangspunkt stellt ein vorläufig umrissenes Forschungsziel einer undogmatisch-offenen Fragestellung dar, welche unterschiedlich stark skizziert sein kann (vgl. Strauss/Corbin 1996, S. 21ff.) und somit den Rahmen für erste Feldkontakte –unter Anwendung ausgewählter Erhebungstechniken – abdeckt.

Mit der Grounded Theory kann sowohl qualitatives als auch quantitatives Datenmaterial ausgewertet werden. Die wesentlichsten Erhebungstechniken qualitativer Daten bilden nicht-standardisierte oder teilstandardisierte Befragungen, Beobachtungen und non-reaktive Verfahren. Ebenso können Sie bereits vorhandene Dokumente verwenden, wie beispielsweise Tagebücher, Briefe, Dossiers, Texte (vgl. Dokumentenanalyse). Dabei ist es beliebig, an welchen Phänomenen des Forschungsbereichs Ihr Analyseprozess ansetzt. Jedoch sollten Sie als Forscher/-in Ihr vorhandenes theoretisches Vorwissen über Ihr Forschungsgebiet transparent machen und Theorie eher in Form von sensibilisierenden Konzepten an den Untersuchungsgegenstand anlegen, so dass Sie möglichst offen für viele neue Aspekte des Problemfelds sind und diese kombinatorisch durchspielen können.

Das Verfahren der Grounded Theory Methodologie verläuft zirkulär und besteht in einer ggf. mehrfach zu durchlaufenden analytischen Triade:

  • Theoretisches Sampling: die Erhebung neuer Daten angestoßen durch jeweilige Resultate des Theorieentwicklungsprozesses
  • die Analyse von bereits vorliegendem Datenmaterial und der Prozess des theoretischen Kodierens,
  • die systematische Entwicklung von Theoriebausteinen wie Konzepten, Kategorien und daraus konstruierten Theorien sowie der Reflexionsprozess des Verfahrens.

Zentrale und parallel ablaufende Schritte der GTM nach Strauss und Corbin (1996) sind: das Stellen von generativen Fragen an das Material (Wer? Wann? Wo? Was? Wie? Wieviel? Warum?), Herstellen von Zusammenhängen zwischen den sich entwickelnden Kategorien im Hinblick auf eine konzeptuell dichte Theorie, kontrastive Vergleiche von Phänomenen, Beachten der Relevanz des Kodierens, Anstreben einer Integration (Was ist der Kern der Theorie? Identifizierung der Schlüsselkategorie(n)), Erstellen von Theorie-Memos sowie das Nutzen des Kodierparadigmas.

Das systematische Anfertigen von Memos im Verlauf Ihres Forschungsprozesses stellt für Sie eine wertvolle Hilfe zur Theoriebildung dar. Das Schreiben der Memos ist unerlässlich, denn es zwingt Sie dazu, Ihre eigenen Ideen, Assoziationen und Hypothesen in Bezug zur Theoriebildung und den Planungsschritten der Auswertung festzuhalten und diese zu ordnen.

Sie haben Ihre Daten erhoben (vgl. Durchführung) und transkribiert (vgl. Transkription), so dass Sie nun mit der Auswertung in Form der Kodierung beginnen. Strauss und Corbin (1996) schlagen für den Kodierprozess folgende Schritte vor:

Offenes Kodieren, d.h. die Daten werden „aufgebrochen“ (durch generative W-Fragen, kontrastive Vergleiche, etc.):

  • Texte werden in Segmente (Sinnabschnitte/Analyseeinheiten) unterteilt
  • Entdeckte Phänomene werden mit theoretischen Kodes und in-vivo Kodes bezeichnet
  • Memowriting (z.B. Theoriememos: Was davon kann Element der sich entwickelnden Theorie sein?)
  • Dimensionalisieren (z.B. wie ist das Phänomen ausgeprägt? Hoch oder niedrig? Stark oder schwach?)
  • Bündelung der Kodes zu ersten übergeordneten Kategorien

Axiales Kodieren, d.h. Sie stellen Relationen zwischen den Kategorien her:

  • Verfeinerung und Differenzierung bereits vorhandener Kategorien
  • Suche nach/Systematisierung von möglichen empirischen Zusammenhängen zwischen den Kategorien, wobei ein Kodierparadigma[2] als Hilfsmittel dient (Kodierparadigma in Anlehnung an Strauss in Strübing 2008, S. 28)
  • Ergebnisse: systematisch an Empirie rekonstruierte und probeweise in einem relationalen Modell verknüpfte Kategorien, überarbeitete Kodeliste und erweiterte Memos

Selektives Kodieren, d.h. Sie ermitteln eine Kernkategorie:

  • Kernkategorie als zentrales Phänomen, um das herum alle anderen Kategorien gruppiert werden können
  • Kernkategorie ist die Antwort auf Ihre Forschungsfrage

Nach Entwicklung der Grounded Theory schlagen Strauss und Corbin (2010) einige Kriterien vor, um den Forschungsprozess zu reflektieren und zu prüfen, ob der Theoriebildungsprozess gelungen und die Theorie gegenstandsverankert ist. Sie dienen sozusagen als Gütekriterien (vgl. Strauss/Corbin 2010, S. 217f.):

  • Wie wurde das Sample ausgewählt? Wie wurde diese Auswahl begründet?
  • Welche Hauptkategorien wurden entwickelt?
  • Welche Ereignisse, Vorfälle, Handlungen usw. verwiesen (als Indikatoren) bspw. auf diese Hauptkategorien?
  • Auf der Basis welcher Kategorien fand theoretisches Sampling statt? Wie leiteten theoretische Formulierungen die Datenauswahl an? In welchem Maße erwiesen sich die Kategorien nach dem theoretischen Sampling als nutzbringend für die Studie?
  • Was waren einige der Hypothesen hinsichtlich konzeptueller Beziehungen (zwischen Kategorien) und mit welcher Begründung wurden sie formuliert und überprüft?
  • Gibt es Beispiele, dass Hypothesen gegenüber dem tatsächlich Wahrgenommenen nicht haltbar waren? Wie wurde diesen Diskrepanzen Rechnung getragen?
  • Wie und warum wurde die Kernkategorie ausgewählt? War ihre Auswahl plötzlich oder schrittweise, schwierig oder einfach? Auf welchem Boden wurden diese abschließenden analytischen Entscheidungen getroffen?

Fazit

Die GTM ist ein regelgeleitetes und systematisches Verfahren, das dennoch nach dem Prinzip der Offenheit vorgeht. Durch die Auseinandersetzung mit dem Material in Form von Assoziationen und Vergleichen werden die Forschenden in ihrer Kreativität gefördert und es entsteht eine dem Gegenstand angemessene Theorie.  Da es sich bei der Grounded Theory um eine komplexe Methodologie und eine aufwendige Methode handelt und der Kodierprozess nach Strauss/Corbin einige Zeit erfordert, ist sie für Abschlussarbeiten, die auf wenige Monate begrenzt sind, weniger geeignet. Dennoch können der Kodierprozess nach Strauss und Corbin und die dahinterliegende Haltung wertvolle Anregungen bieten und stellen damit eine sinnvolle Alternative zu anderen Auswertungsmethoden dar. Ratsam ist es, sich während des Forschungsprozesses in einer Forschungsgruppe zusammenzuschließen, um sich über den Forschungs- und Auswertungsprozess austauschen und ggf. auch gemeinsam ausschnittweise kodieren zu können.

Weiterführende Literatur: Grounded Theory-Methodologie

  • Glaser, Barney/Strauss, Anselm L.: The discovery of gounded theory. Chicago: Aldine, 1967, (Originalwerk, deutsche Übersetzung: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung. Bern: Verlag Hans Huber, 1998.)
  • Mey, Günter/Mruck, Katja (Hrsg.): Grounded Theory Reader. Historische Sozialforschung Supplement 19. Köln: Zentrum für historische Sozialforschung, 2007.
  • Strauss, Anselm L./ Juliet M. Corbin: Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Beltz, Psychologie-Verlag-Union, 1996/2010.
  • Strübing, Jörg: Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2004.

[1] Die deutsche Übersetzung ist oft missverständlich. Mit einer „grounded“ Theory meinen Strauss und Glaser eine Theorie, die durch das Wechselspiel von Empirie und Theorieentwicklung entsteht und damit in den Daten gegründet bzw. verankert ist. Im weiteren Verlauf wird daher die englische Originalform verwendet.

[2] Das Kodierparadigma nach Strauss ist ein heuristisches Modell, das dabei hilft Kategorien im Hinblick auf ihre Beziehung untereinander zu strukturieren. So kann im Prozess überprüft werden, ob die entwickelten Kategorien und Kodes ursächliche Bedingungen, Kontextaspekte, Handlungsstrategien, intervenierende Bedingungen oder Konsequenzen in Bezug auf das untersuchte Phänomen darstellen.