Dokumentarische Methode

Dr. Anna Maria Kamin

Eine methodische Herangehensweise, um audiovisuell erzeugtes und transkribiertes Material auszuwerten (vgl. Auswertung quantitativ; Auswertung qualitativ), bietet Ihnen die dokumentarische Methode, welche im Folgenden in aller Kürze erläutert werden soll. Darauffolgend werden Sie auf die Grenzen und Chancen der Methode hingewiesen, um Ihnen abschließend beispielhaft das vierstufige Verfahren vorzustellen, mit welchem Sie die erhobenen – und transkribierten – Daten auswerten können.
Es handelt sich bei der Methode um ein verstehendes Verfahren. Im Vordergrund steht die Rekonstruktion und Interpretation immanenter (vorstellbarer) Sinngehalte von Erzähl-, Interaktions- und Diskursverläufen. Die Methode eignet sich, um qualitative Interviews, Gruppendiskussionen oder Videoaufzeichnungen auszuwerten, insbesondere wenn diese längere narrative Phasen beinhalten und damit über die reine Beschreibung (bspw. im Vergleich zur Qualitativen Inhaltsanalyse) hinaus vertiefend analysiert werden sollen. Leitgedanke des Begründers des Verfahrens – RALF BOHNSACK – ist, dass ein deutlicher Unterschied zwischen Verstehen und Interpretieren existiert, welcher durch die Rekonstruktion überwunden werden soll. BOHNSACK vertritt den Ansatz, dass sich Verstehen intuitiv und a-theoretisch aus der unmittelbaren Logik des Alltags heraus ergibt. Die Interpretation hingegen bezieht sich auf den zweckrationalen Zusammenhang einer Handlung, bzw. dem Motiv oder der Absicht, die sich hinter einer Handlung verbirgt (vgl. BOHNSACK 2003, S. 59 f.). Diese Differenz bezeichnet BOHNSACK als kommunikativen oder immanenten Sinngehalt und konjunktiven bzw. dokumentarischen Sinngehalt. Verstehen ist nach dieser Sichtweise die Explikation des Verstandenen bzw. die Spanne zwischen den beiden Sinnebenen. Somit muss es Ziel der Auswertung sein, implizites Wissen begrifflich zu erläutern (vgl. BOHNSACK/NENTWIG-GESEMANN/NOHL 2007, S. 12).

________________________________________________________________________________________

Verstehen = ergibt sich rein intuitiv aus dem alltäglichen Verständnis heraus

Interpretation = bezeichnet ein an bestimmten Zwecken und Motiven ausgerichtetes Denken und Handeln

Unterschied zwischen Verstehen und Interpretation = basiert auf einem kommunikativen und immanenten Sinngehalt (Verstehen) und einem konjunktiven bzw. dokumentarischen Sinngehalt (Interpretation). Diese Differenz soll durch die Rekonstruktion überwunden werden.

Verstehen ist die Erläuterung des Verstandenen. Ziel der Auswertung: implizites Wissen begrifflich darzustellen.

________________________________________________________________________________________

Dokumentarische Methode_Abb. TI

Abb. 1.: verkürzte Darstellung IHLN (2014)
BOHNSACK schlägt dazu ein vierstufiges Verfahren vor: eine formulierende Interpretation, eine reflektierende Interpretation, eine Fallbeschreibung und einen Vergleich, der eine Typenbildung mit theorieorientierten Hinweisen anstrebt.
Doch: Da die Methode sehr komplex ist, ist sie in vollem Umfang und mit allen Auswertungsschritten für kleinere Forschungsarbeiten, wie bspw. einer B.A.-Arbeit o.Ä., ungeeignet. Dennoch bietet die dokumentarische Methode mit ihrer alternativen Sichtweise auf qualitative Daten die Chance, vertiefende Erkenntnisse zu den erhobenen Daten zu erhalten. Vielfach werden für Qualifikationsarbeiten, wie bspw. auch Dissertationen o.Ä., lediglich die ersten beiden bzw. drei Auswertungsschritte durchgeführt.
Wie die nachfolgende Beschreibung der Vorgehensweise sowie das angeführte Beispiel Ihnen verdeutlichen soll, birgt die Methode die Gefahr, dass die Ergebnisse in erster Linie an die Interpretation des Forschers/der Forscherin – also Ihre eigene Interpretation – gebunden (s.u.) und damit nicht ausreichend valide (gültig) sind. Alle Protagonisten der dokumentarischen Methode empfehlen daher zwingend, die Diskussion Ihrer Ergebnisse in einer Interpretationsgruppe (z.B. in Kolloquien oder Forschungswerkstätten).

I Formulierende Interpretation

Im ersten Schritt der dokumentarischen Methode geht es darum herauszuarbeiten, welche Themen und Unterthemen in Ihrem Interview/Ihrer Gruppendiskussion angesprochen werden. Da Sie im Zuge dieser Untergliederung des Textes – Ihres Transkripts – zusammenfassende Formulierungen leisten, nennt BOHNSACK diesen Schritt ‚formulierende Interpretation‘. In diesem Schritt verbleiben Sie noch innerhalb des Orientierungsrahmens, den Ihnen der/die Interviewte vorgibt, und machen diesen noch nicht zum Gegenstand begrifflich-theoretischer Explikation, d.h. Sie beginnen an dieser Stelle noch nicht, die Aussagen begrifflich-theoretisch sowie theoriegeleitet zu erläutern.
Die formulierende Interpretation kann somit als Rekonstruktion der thematischen Gliederung Ihrer erstellten Transkripte gesehen werden.
Darüber hinaus werden zur Vorbereitung auf den nächsten Interpretationsschritt Passagen innerhalb Ihrer Transkripte gekennzeichnet, die durch thematische Relevanz in Bezug auf Ihre formulierte Fragestellung für eine komparative Analyse (d.h. Untersuchung Ihrer Fälle nach dem Kriterium der Vergleichbarkeit) geeignet sind.
Ebenso werden von Ihnen weitere Passagen aus dem Skript ausgewählt, die sich unabhängig von der Fragestellung durch eine besondere interaktive und metaphorische Dichte auszeichnen (z.B. Passagen, in denen ein häufiger Sprecherwechsel stattfindet, in denen das Thema ausführlich behandelt wird oder Sequenzen, die in sich eine Intensität aufweisen).
So wird an dieser Stelle die Frage beantwortet, was innerhalb des Interviews und/oder der Gruppendiskussion gesagt wird und der Inhalt des Transkripts wird paraphrasiert, so dass die thematische Struktur und Gliederung des Textes nachgezeichnet werden können.

Beispiel: Interview mit 13-jähriger Schülerin zu Medienhandeln in der Familie
Also ich (.) tipp die einfach bei Google ein die Sachen die ich suche und dann (.) zum Beispiel Wikipedia oder so. //mhm// Da kann man ja immer sowas reinschreiben was man will. //mhm// Es stimmt ja nicht immer //genau// und dann guck ich immer (.) wenn (.) richtig viele Seiten wenn immer das Gleiche da st=drin steht dann nehm ich das einfach raus. Z.312-315

Oberthema: Internetnutzung
Unterthema: Strategien bei der Internetrecherche für die Schule Z. 312-315
312 Eingabe des Suchbegriffs in die Suchmaschine Google
313 Verwendung der Enzyklopädie Wikipedia
313-314 In Wikipedia kann jeder reinschreiben, daher stimmt nicht alles
314-315 Wenn auf vielen Seiten das Gleiche steht, verwendet sie die Informationen

Wenn Sie nun Ober- und Unterthemen für Ihre Passagen formuliert haben, erhalten Sie gleichzeitig eine thematische Feingliederung.

II Reflektierende Interpretation

Im zweiten Interpretationsschritt erfolgt eine Rekonstruktion und Explikation (Erläuterung) des Rahmens, innerhalb dessen das Thema abgehandelt wird. Diese Identifizierung von Bedeutungszusammenhängen wird als ‚reflektierende Interpretation‘ bezeichnet. Voraussetzung für diese empirisch-methodisch kontrollierte Reflexion ist für BOHNSACK der Bezug auf empirisch fundierte und nachvollziehbare Gegenhorizonte (vgl. ebd., S. 38). Die Identifikation von Gegenhorizonten, bspw. die Abgrenzung von Personen oder Gruppen, bilden die wesentlichen Bezugspunkte der reflektierenden Interpretation. Ihre eigenen Vorstellungen oder Entwürfe, die den Gegenhorizont bilden, können entweder gedankenexperimentell sein oder auf hypothetischen Vorstellungen beruhen, sind also abhängig vom Standort des Interpreten/der Interpretin. Demzufolge ist es notwendig, dass Sie nun durch empirische Fundierung der Vergleichshorizonte die Untersuchung methodisch kontrollierbar und intersubjektiv nachvollziehbar machen.

Beispiel:
Zeilennummern
312-315 Oberthema
Internetnutzung Unterthema
Internetrecherche für die Schule
Orientierungsmuster
Schematisches Vorgehen bei der Informationssuche im Netz

Horizont
Eingabe des Suchbegriffs in Google

Informationen werden als valide erachtet, wenn sie mehrfach identisch im Netz auftauchen. Gegenhorizont
Zielgerichtete Vorgehensweise mit der Anwendung von erweiterten Suchoptionen und Werkzeugen.
Kriterien geleitete Bewertung von Internetquellen.

Analytisches Fazit
Die Passage deutet auf eine wenig ausgeprägte Reflexivität im Umgang mit Internetquellen und mangelnde medienkritische Fähigkeiten der Schülerin hin.

So könnten Sie für diesen Schritt Fragen unterstützen, wie bspw.:
– Welche Bemühungen, Wünsche und Gedanken enthält die vorliegende Passage?
– Welcher Sinngehalt kann als Grundlage dieser Aussage formuliert werden?

III Fallbeschreibung

Nachdem Sie den Diskursverlauf im Zuge der formulierenden Interpretation und der reflektierenden Interpretation in seine Komponenten zergliedert haben, wird in der so genannten Fallbeschreibung (manchmal auch als Diskursbeschreibung bezeichnet) all dies wieder zusammengesetzt und eingebunden. An dieser Stelle entwickeln Sie nun eine Art Nacherzählung des Diskursverlaufs. (BOHNSACK 2003, S. 51). Primäre Aufgabe ist es, die Ergebnisse im Zuge einer Veröffentlichung darzustellen. Dabei fügen Sie ausgewählte Textpassagen als Zitate ein.

Beispiel:
Bei der Internetrecherche geht die Interviewpartnerin wenig zielgerichtet vor. Die Aussage tipp die einfach bei Google ein lässt den Schluss zu, dass sie keine erweiterten Suchoptionen oder alternative Suchmaschinen kennt. Gleichwohl weiß sie, dass Internetquellen, wie Wikipedia, nicht immer glaubhaft sind. Zur Bewältigung hat sich Shiva eine Strategie angeeignet die nicht auf eine angemessene Quellenkritik im Sinne einer Beurteilung nach validen Kriterien beruht, stattdessen praktiziert sie eine heuristische Herangehensweise, indem sie Informationen verwendet, die mehrfach identisch im Netz auftauchen werden (wenn immer das Gleiche da st=drin steht).

IV Typenbildung

Innerhalb der zuvor beschriebenen Interpretationsschritte wurden die Analyse eines Einzelfalls und der fallinterne Vergleich fokussiert. Im nun abschließenden Auswertungsschritt der dokumentarischen Methode, gerät die fallübergreifende Abstraktion aus all Ihren Fällen in den Fokus. Ziel dessen ist es, eine Typisierung vorzunehmen, d.h. im Zuge der Typenbildung arbeiten Sie aus der Interpretation Bezüge zwischen spezifischen Orientierungen und Erlebnishintergründen heraus. Wesentliches Element der Typenbildung ist die komparative Analyse einzelner Fälle (vgl. ebd. 2003, S. 135).

Softwareempfehlungen:

Keine

Literatur:

  • Bohnsack, Ralf (2003): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 5. Aufl. Opladen: Barbara Budrich Verlag.
  • Bohnsack, Ralf; Nentwig-Gesemann, Iris; Nohl, Arnd-Michael (Hg.) (2007): Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Nohl, Arnd-Michael (2008): Interview und dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis. 2., überarb. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften.

Weitere Praxisbeispiele:

Dokumentarische Methode: Schulpädagogik, Universität Kassel (Online verfügbar unter: http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/lernumgebung/dokumentarische-methode/ November 2014)