In den Jahren 2004 bis 2014 hat Professorin Annette Brauerhoch am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn kontinuierlich am Aufbau eines kleinen, sehr speziellen Archivs mit Avantgarde- und Experimentalfilmen von Filmemacherinnen mit einem Schwerpunkt in Deutschland gearbeitet. Das Archiv – präziser als Sammlung zu bezeichnen – umfasst 40 Kopien und konzentriert sich auf die 1980er Jahre, ein besonders produktives Jahrzehnt für experimentelles Filmschaffen in der BRD allgemein und den „Aufbruch“ der Frauen im Besonderen. An den Kunsthochschulen Bremen, Hamburg und Braunschweig entstanden Filme, deren Augenmerk auf einer Auseinandersetzung mit der Materialität des Filmstreifens und dem handwerklichen Umgang mit Filmtechnik lag. Dies machte die Filme für die Sammlung in zweierlei Hinsicht besonders interessant: zum einen dienen sie damit als historisch markante Beispiele einer Materialästhetik, die im analogen Filmstreifen wurzelt, und andererseits stellen sie Experimente vor der Entstehung und Bedeutungszunahme digitaler Produktionsformen dar. Im Rahmen der universitären Lehre ermöglichen sie den bewussten Vergleich zwischen analogen und digitalen Datenträgern, Ästhetiken und Wahrnehmungsformen. Die Filme der Sammlung liegen alle als neue Kopien vor und sie werden regelmäßig in Experimentalfilmseminaren analog projiziert. Bei der Einrichtung des Seminarraums wurde höchste Sorge getragen, dass für die Aufführung der Filme die besten Bedingungen herrschen: vollständige Verdunkelung, Leinwand mit Kasch, stufenlos umschaltbarer 16mm-Projektor (sowie ein professioneller Super 8-Projektor) und ein Steenbeck Schneidetisch bilden eine gut gewartete Grundausstattung. Damit bietet das Institut für Medienwissenschaften Bedingungen, wie sie außerhalb von Archiven an keiner anderen deutschen Universität zu finden sind.
Experimentalfilme von Frauen
Im Experimentalfilm liegen die Möglichkeiten der Dekonstruktion wie der Konstruktion und Rekonstruktion – von Autorschaft, Geschichte und Ideologie – sowie die formale und inhaltliche Konfrontation mit und Infragestellung von etablierten Normen der „Filmkunst“. Im ästhetischen Experiment such(t)en Filmemacherinnen die Auseinandersetzung mit einer patriarchal geprägten Filmsprache und ihren Gesetzen. Parallel zu den Bemühungen der Literatur um eine „weibliche Sprache“ ging es dabei um Fragen der Möglichkeiten, Bedingungen und Sinnhaftigkeit einer „weiblichen Ästhetik“ und der generellen Beziehung von Film zu geschlechtsspezifischer Schaulust und Subjektkonstitution. Es sind vor allem die Filme der 1980er Jahre, die von einer Aufbruchsbewegung der Filmemacherinnen und der Lust am ästhetischen Experiment zeugen. Reiner Strukturalismus ist selten, die Auseinandersetzung mit Männlichkeiten, weiblicher Sexualität und Subjektivität, Innen- und Außenräumen, Geschichte, Macht und Ideologie spielt immer eine Rolle, oft im Zusammenhang mit haptischer Materialität. Die Sammlung konzentriert sich daher auf den Erwerb und die Bewahrung der Filme aus dieser Zeit.
Die Kopienlage dieser frühen Werke war oft prekär. Negative waren unzureichend gelagert oder gar verschollen, oder das zum Ziehen einer Kopie nötige Material wurde nicht mehr hergestellt. Wir waren auf die Kooperation mit anderen Archiven, Filmmuseen und Kopierwerken angewiesen und konnten in den vielen Jahren des Aufbaus unseres Archivs auf zahlreiche bestätigende und beglückende Momente in der Zusammenarbeit sowohl mit den Filmemacherinnen, den Kopierwerken als auch den Archiven zurückblicken. Manchmal besitzen wir mittlerweile die einzige gut erhaltene Kopie eines Films. Das Archiv ist allerdings ein reines Lehr- und Forschungsarchiv, kein Verleih. Ziel ist es, in der Lehre Wahrnehmungshorizonte zu erweitern, den Blick zu schulen, Interesse und Aufmerksamkeit für Filmformen jenseits des konventionellen Spielfilms zu erzeugen. Für viele Studierende stellen die Sichtungen eine neuartige Erfahrung dar, die sie von alleine kaum suchen oder finden würden.
Experimentalfilm von Frauen und kulturelles Erbe
Geschichtsschreibung spiegelt die vorwiegend männliche Kodierung des kulturellen Gedächtnisses. Dadurch stellt sich die Frage nach der Geschlechterdifferenz in Bezug auf das kulturelle Gedächtnis auf besondere Weise. Der offizielle Diskurs bis hin zur Sprache schließt weibliche Praxen aus, welche sich oft als minoritäre entziehen. Dieses Faktum betrifft in einem starken Maße die Filmarbeit von Frauen, die sich in ihren Produktionen oft bewusst von etablierten Konventionen abheben, um auf konkrete Lebensrealitäten in einer Weise aufmerksam zu machen, die nicht in formalen Konventionen aufgehoben oder neutralisiert wird. Solche Filme aber, die keine kommerzielle Verwertung fanden, bleiben in der Regel von der Archivierung ausgeschlossen.
Film nimmt als eine spezifische Form der kulturellen Äußerung für die Vermittlung weiblicher Kultur/Arbeit einen besonderen Stellenwert ein. Im Experimentalfilm von Frauen findet eine Auseinandersetzung mit herrschender Kultur, ihren Formen der Tradierung und gerade auch der Festschreibung der Frau als Objekt des Blicks in der Bildkultur statt. Gerade Experimentalfilme stellen stärker als Spielfilme Verkörperungen von Erfahrung dar, die der Wahrnehmung zugeführt werden und damit teilbar und mitteilbar werden. Bezogen auf das kulturelle Erbe ermöglicht das Archiv daher auch, solche Praxen dem offiziellen Diskurs zu erschließen.
Es ist wichtig, dieses kulturelle Erbe, die Filmarbeit von Frauen, in ihrem ursprünglichen Material – als Filmkopien – zu erhalten und neue Kopien zu ermöglichen. Film (Zelluloid, Acetat, Polyester) ist bis heute das sicherste und langfristigste Material der Archivierung, das von keinem anderen Träger übertroffen wird. Die stabile Technik funktioniert seit über 100 Jahren in derselben Weise zuverlässig. Schön wäre, wenn mit dem Experimentalfilmarchiv an der Universität Paderborn nicht nur der Grundstein gelegt wäre für einen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkt zum Avantgarde- und Experimentalfilm in Deutschland, sondern vor allem auch zur Erforschung und Dokumentation kultureller Praxen von Frauen und der Schreibung einer anderen Geschichte. Neue Aufmerksamkeit nicht nur für diese Filme, sondern auch eine verdrängte Geschichte weiblicher, ästhetischer Praxen in Lehre und Forschung zu wecken und ein Bewusstsein bei den Studierenden für diese Produktionen zu schaffen, hat sich das Archiv in diesem Sinne zur Aufgabe gemacht.
(Text/Quelle: Annette Brauerhoch)
FILMEMACHER:INNEN
Im Archiv für den bundesdeutschen Experimentalfilm von Frauen finden sich Arbeiten der folgenden Filmemacherinnen, zu deren Werken sich weitere Informationen auf der Website von Prof. Dr. em. Annette Brauerhoch finden (jeweils verlinkt):
Ute Aurand | Christine Noll Brinckmann | Linda Christanell | Anja Czioska | Helga Fanderl | Bärbel Freund | Monika Funke Stern | Eva Heldmann | Cathy Joritz | Hille Köhne | Maria Lang | Lilo Mangelsdorff | Mara Mattuschka | Elfi Mikesch | Dore O. | Ulrike Ottinger | Laura Padgett| Ingrid Pape-Sheldon | Maija-Lene Rettig | Pola Reuth | Rosi S.M. | Renate Sami | Claudia Schillinger | Helke Sander | Karola Schlegelmilch | Ula Stöckl | Anja Telscher