Lautes Denken

Elke Düsing

 

Wenn Sie Einblicke in die mentalen Aktivitäten eines Schülers oder einer Schülerin beispielsweise während der Bearbeitung von Aufgaben oder der Rezeption von Texten bekommen möchten, bietet sich die qualitative Forschungsmethode des „Lauten Denkens“ (thinking aloud protocol) an. Lautes Denken bedeutet, dass das Individuum eine handlungsbegleitende, mündliche Beschreibung seiner gedanklichen Planungen und Vorgehensweisen formulieren soll. Da Sie die Untersuchung in der Regel nur mit jeweils einem Probanden oder einer Probandin durchführen können, ist diese Methode den empirisch-induktiven Verbalisierungsverfahren zuzuordnen. Das heißt, dass Sie vom einzelnen Fallbeispiel Schlussfolgerungen ableiten. Sie werden als Untersucher/in feststellen, dass das Laute Denken nicht nur eine Verbalisierung kognitiver Prozesse, sondern ggf. auch von Gefühlen ist.

Grundsätzlich kann allerdings die Verbalisierung mentaler Prozesse nicht mit dem ursprünglichen Denkprozess gleichgesetzt werden, da die Versprachlichung und die zeitliche Differenz der Vorgänge bereits eine Weiterverarbeitung darstellen. Der zeitnahe Einblick in die mentalen Aktivitäten, die im Kurzzeitgedächtnis abgelegt sind mittels der handlungsbegleitenden Verbalisierung nennt sich Introspektion.  Die Beschreibung der Gedankengänge nach Abschluss der Aufgabenbearbeitung wird hingegen als verzögerte Retrospektion bezeichnet. Je zeitnaher die Gedanken versprachlicht werden, desto eher ist eine Abbildung der ursprünglichen Gedankengänge gewährleistet.

Manchmal neigt der laut Denkende dazu, seine Handlungen zu rechtfertigen oder zu reflektieren, was nur Sie als Untersuchende/r durch entsprechende Anweisungen beeinflussen können oder aber in der Auswertungsphase mit berücksichtigen müssen. Ihr Verhalten ist während der Erhebungssituation grundsätzlich von großer Bedeutung.

Verhalten des Forschenden

Es ist wichtig, dass Sie dem Schüler/der Schülerin als Versuchsperson mit Sympathie und hoher Sensibilität begegnen. Dadurch kann die Gefahr reduziert werden, dass er/sie Aussagen formuliert, die lediglich der sozialen Erwünschtheit entsprechen. Verzichten Sie auf persönliche Kommentare. Ein Video- oder Audiomitschnitt ist ergänzend oder alternativ zum schriftlichen Protokoll zu empfehlen, um alle Äußerungen nachträglich auswerten zu können.

Selbstverständlich sollten Sie die Dokumentationsvariante und den verantwortungsvollen  Umgang mit den gewonnenen Daten adressatengerecht erläutern. Vor der Untersuchung notieren Sie sich die persönlichen Angaben der Versuchsperson (Name, Alter, Jahrgangsstufe, Geschlecht etc.). Neben den Personendaten kann auch das Interesse und die Motivation bzgl. der Aufgabenstellung erfragt werden, falls dies für die Untersuchungsfrage hilfreich ist. Nicht nur sozial erwünschte Aussagen können die Untersuchung verfälschen, sondern ebenfalls die besonderen Bedingungsfaktoren der Gesprächssituation. Häufig neigt der/die Proband/in dazu, den/die Untersucher/in anzusprechen, da dies in der Kommunikation zwischen zwei Personen natürlich ist. Bei der Methode des Lauten Denkens müssen Sie als Untersuchungsleiter/in dem Gegenüber jedoch vorab erläutern, dass Sie zwar interessiert zuhören werden, aber kein Gespräch führen wollen. Betonen Sie, dass die Versuchsperson sich auf sich selber konzentrieren und nicht sozial interagieren soll.

Hier ein Beispiel für einen möglichen Anweisungstext:

„Sprich bitte alles aus, was dir in den Sinn kommt und durch den Kopf geht, während du die Aufgabe löst. Dabei ist es wichtig, dass du nicht versuchst, zu erklären oder zu strukturieren, was du tust. Stell dir einfach vor, du bist allein im Raum und sprichst mit dir selbst.“[1]

Es ist sehr sinnvoll, das Laute Denken vor Untersuchungsbeginn anhand anderer Aufgabenstellungen zu üben. Dies ist besonders wichtig, wenn die Probanden noch sehr jung sind. Planen Sie also am besten eine Aufwärmphase ein.

Alter der Probanden

Insbesondere jüngeren Schülerinnen und Schülern wird es schwer fallen, keinen Kontakt zu Ihnen als Untersuchungsperson aufzubauen. Die Verbalisierungsfähigkeit eigener Gedankengänge hängt vom Entwicklungsstand und von den sprachlichen Kompetenzen des/der Probanden/in ab. Deshalb kann die Methode nicht immer erfolgreich in der Grundschule eingesetzt werden.

Zusammenfassend werden im Folgenden die wichtigsten Verhaltensaspekte des/der Untersuchers/in genannt.

1) Vor Versuchsbeginn Erhebung der persönlichen Daten

2) Vorab Übung des Lauten Denkens anhand anderer Aufgabenstellungen

3) Klare Aufgabenstellung, ggf. schriftliche Präsentation der Aufgabenstellung

4) Freundliche und ungezwungene Untersuchungsatmosphäre

Entwicklungsgeschichte der Methode

Zu Beginn des 20. Jhs. begann die Psychologie sich für die kognitiven Prozesse des Individuums zu interessieren, wofür die Methode der Selbstbeobachtung in Form eines Berichts genutzt wurde. Laut-Denk-Protokolle kamen zunehmend zu Beginn der 1970er Jahre zum Einsatz. Seit der kognitiven Wende, die u.a. die Abkehr vom Behaviorismus zum Kognitivismus bezeichnet, und ungefähr den 1970/80er Jahren zugeordnet werden kann, rückten die Prozesse des Denkens in zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen in den Vordergrund, so dass nach einer Forschungsmethode gesucht wurde, diese individuellen Vorgänge nachvollziehen zu können. Das Laute Denken stellt hierfür eine geeignete Möglichkeit dar.

Mittlerweile findet diese Methode auch Einsatz in didaktischen Zusammenhängen, beispielsweise wenn die Lehrkraft im Deutschunterricht Lesestrategien vermittelt, indem sie den Schülerinnen und Schülerinnen die eigenen Denkprozesse und Umgangsweisen mit einem Text handlungsbegleitend verbalisiert.[2] Hierbei handelt es sich um eine Variante des Lauten Denkens, die ausdrücklich den kommunikativen Austausch in einem spezifischen sozialen Kontext mit berücksichtigt.

Die Verbalisierung der Denkprozesse, die von einem Schüler/in formuliert werden, kann auch als informative Grundlage für die Diagnostik des persönlichen Lernstands dienen. In ritualisierten Rechtschreibgesprächen wird diese Methode beispielsweise implizit angewandt. So sollen einzelne Schüler/innen beschreiben, wie sie bei der Lösung eines Rechtschreibproblems vorgehen. Dadurch kann ggf. das Vorgehen durch die Hinweise der Mitschülerinnen und Mitschüler optimiert werden oder als lösungsrelevante Möglichkeit präsentiert und diskutiert werden.

Anwendungsbeispiel

Kompetenzbereich: Lesekompetenz

Untersuchungsziel: Sie möchten herausfinden, wie die Schülerin bzw. der Schüler vorgeht, um eine Tabelle zu verstehen.

Vorgehen:

1) Dokumentation der Personendaten

2) Zusätzliche Informationen können über einen Fragebogen erfasst werden z.B. zum Selbstwertkonzept im Umgang mit Tabellen über eine kurze Selbsteinschätzung:

  • z.B. „Ich kann einen Zugfahrplan gut lesen.“ – Kreuze an: „Trifft zu –Trifft weniger zu – Trifft gar nicht zu.“
  • Zusätzliche Fragen zur Lesepräferenz (Was liest du gerne?) oder Lesequantität (Wie oft liest du in deiner Freizeit?) könnten ggf. ebenfalls hilfreich sein.

3) Kurze Erläuterung des Vorgehens: Aufwärmphase – Dokumentationsmedium (z.B. Video, Audio, Protokoll)

4) Kurzes Training der Methode (Aufwärmphase)

  • „Ich zeige dir jetzt gleich ein Bild. Du sollst dem Bild einen Titel geben.

Sprich bitte alles aus, was dir durch den Kopf geht, wenn du das Bild betrachtest, um deinen Titel zu finden. Dabei ist es wichtig, dass du nicht versuchst, zu erklären, was du tust. Stell dir einfach vor, du bist allein im Raum und sprichst mit dir selbst.“

Hinweis:

Bestärken Sie die Schülerin bzw. den Schüler, die Gedanken zu verbalisieren. Ggf. müssen Sie kurze Erinnerungsimpulse geben wie „Lautes Denken nicht vergessen“.

5) Hauptuntersuchung

Aufgabenstellung: Welche Informationen kannst du dieser Tabelle entnehmen?

Anweisung der Versuchsleitung:

„Ich zeige dir jetzt gleich die Aufgabenstellung.

Sprich bitte alles aus, was dir durch den Kopf geht, während du die Aufgabe bearbeitest. Dabei ist es wichtig, dass du nicht versuchst, zu erklären, was du tust. Stell dir einfach vor, du bist allein im Raum und sprichst mit dir selbst.“

6) Dokumentationsmöglichkeiten

Falls Sie einen Audio- oder Videomitschnitt machen, können Sie selber zusätzliche Notizen zum Beispiel zur Mimik, Gestik oder Verbalisierungsgeschwindigkeit und Pausensetzung machen.

Als Audioaufnahmesoftware bietet sich das kostenlose Programm „Audacity“ an.

7) Auswertung der Daten

Das aufgezeichnete Laute Denken muss zunächst transkribiert werden (s.a. Transkription). Hierzu eignet sich das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem (GAT).

Reduzieren Sie das Datenmaterial auf die Untersuchungsperspektive „Wie geht der Proband vor, um die Tabelle zu verstehen?“

8) Nutzung der Daten

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Ergebnisse zu verwenden. Die Antwort auf Ihre Forschungsfrage kann z.B. Grundlage für die Individualdiagnostik sein. Falls Ihnen die Daten mehrerer Probanden vorliegen, werden Schlussfolgerungen auf unterschiedliche oder ähnliche Vorgehensweisen möglich.

Literatur:

  • Göpferich, Susanne (2007): Praktische Handreichung für Studien mit lautem Denken und Translog (2000 und 2006). Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft (ITAT). Karl-Franzens-Universität Graz. (Stand Februar 2007). http://www.susanne-goepferich.de/Handreichung.pdf (25.02.2007). Abrufdatum: 18.10.2014.
  • Heine, Lena (2014): Introspektion. In: Settinieri, Julia u.a. (Hrsg.): Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Paderborn,123-135.
  • Heine, Lena/Schramm, Karen (2007): Lautes Denken in der Fremdsprachenforschung: Eine Handreichung für die empirische Praxis. In: Vollmer, Helmut J. (Hrsg.): Synergieeffekte in der Fremdsprachenforschung. Empirische Zugänge, Probleme, Ergebnisse. Frankfurt: Peter Lang Verlag, 167-206.
  • Konrad, Klaus (2010): Lautes Denken. In: Mey, Günter/ Mruck, Katja (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden: VS Verlag, 476-490.
  • Schreier, Margit (2006): Qualitatives Untersuchungsdesign. In: Groeben, Norbert (Hrsg.): Empirische Unterrichtsforschung in der Literatur- und Lesedidaktik. Weinheim München: Iuventa Verlag, 343-359.
  • Steen, Gerard J. (1994): Lautes Denken zwischen Validität und Reliabilität. In: Barsch, Achim (Hrsg.): Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion. Frankfurt: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 297-305.

[1] Heine/Schramm ( 2007, 178)

[2] Vgl. Willenberg, Heiner (2007): Der Lehrer als Meisterleser. In: Willenberg, Heiner (Hrsg.) Kompetenzhandbuch für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 182.

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