„Ich habe den ganzen Koran gelesen…“

Es sollte ein schöner Abend werden! Nach sechs Monaten Lockdown wieder am kulturellen Leben teilnehmen, darauf hatte sie sich so gefreut und für eine Live-Show der Physikanten zwei Tickets besorgt. Kurz vor Beginn der Show nahmen sie ihre Plätze in dem kleinen Theater ein. Gleich kam auch die Kellnerin, bei der die Getränke bestellt wurden. Sie bemerkte, dass vor ihrem linken Sitznachbarn zwei Tische standen. Seine Getränke standen auf dem linken Tisch, sie fragte ihn, ob sie den rechten Tisch etwas näher zu sich schieben könne, damit sie darauf ihre Getränke ablegen können. Der ältere Mann nickte freundlich und half ihr sogar dabei. Sie bedankte sich bei ihm.

Ein paar Sekunden blieb es still, dann drehte er sich mit einer plötzlichen Kopfbewegung zu ihr und sagte: „Sie sprechen aber gut Deutsch!“ Der Satz löste bei ihr ein innerliches Entsetzen aus. „Nicht schon wieder.“ Sie blieb ruhig, schaute ihn freundlich an und sagte nur: „Danke!“, und richtete ihren Blick auf die Bühne. Kurz darauf nahm er einen weiteren Anlauf: „Woher kommen Sie eigentlich?“ Sie drehte sich zu ihm und meinte ignorant: „Sie meinen, aus welchem Stadtteil wir angereist sind?“ Sie ahnte schon, wohin das Gespräch führen sollte: „Nee, wo sie ursprünglich herkommen.“ Sie reagierte auf die Frage mit einer kurzen Antwort. Der Mann ist anscheinend bislang wenigen Personen mit Migrationshintergrund begegnet, dachte sie. Von dem Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani stammte die These, dass die Aussage, dass man gut Deutsch spreche, immer weniger gestellt werde, da man mittlerweile genug Personen mit guten Deutschkenntnissen kenne.

Das Interesse des Sitznachbarn war nach der knappen Antwort nun voll entfacht: Es folgte eine Frage nach der anderen: „Wo sind Sie denn geboren? Wie alt waren Sie, als Sie nach Deutschland kamen? Sie sprechen ja ohne Akzent, meine Hochachtung! Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt? …“

Ihre Stimmung war dahin. Sie hätte ihm nun seine Distanzlosigkeit und Indiskretion vorhalten können, aber das hätte die Stimmung des Abends verdorben. So beantwortete sie seine Fragen in unvollständigen Sätzen, manchmal mit abgewandtem Gesicht. Der Gesprächspartner aber, ein Zahnmediziner im Ruhestand, wie sie sogleich erfuhr, war hartnäckig und offensichtlich überzeugt, dass er auf dem neuesten Stand der Sprachentwicklungstheorie sei, und bemühte sich, sie anhand ihrer Antworten an seinem Wissen über Fremd- und Zweitspracherwerb teilhaben zu lassen. Sie schaute nach jeder kurzen Antwort Richtung Bühne, in der Hoffnung, er würde merken, dass sie nicht die geringste Lust hatte, ein Gespräch mit ihm zu führen. Sie schaute immer wieder auf die Uhr, der Künstler, den sie sehnsüchtig wie den Erlöser erwartete, ließ aber auf sich warten.

Der Gesprächspartner nahm wieder Fahrt auf und kam nun in seinem pseudo-empathischen Interesse auch auf ihren Kleidungsstil zu sprechen. „Ich nehme an, Sie haben schon mal den Koran gelesen? Ich habe ihn auch von vorne bis hinten gelesen und habe dort nichts über das Kopftuch gefunden. Ihnen ist klar, dass Sie gegen das koranische Gebot handeln?“ Da war er nun, der Befreier, allerdings in der Gestalt eines männlichen Feministen und Verteidigers der reinen islamischen Lehre! Sie verstummte, denn sie stand wieder einmal vor der verblüffenden Tatsache, dass ein freundlicher und hilfsbereiter Mitbürger, ohne offen fremdenfeindlich zu sein, jeden Respekt und jede Demut vor der Überzeugung und der Lebensgestaltung Anderer vermissen ließ, ja, dass sein aufgeklärtes Gehabe eigentlich nur Intoleranz und Belehrung war. Ein bisschen mehr epistemische Demut und Offenheit für die Wahrheit des Anderen sind doch nicht zu viel verlangt, dachte sie.

Für eine wie sie, deren Biografie geprägt war vom Status einer Außenstehenden, erwies sich wieder einmal, dass sich seit Karl May nicht viel geändert hat in Deutschland. Der Orientale ist ein rätselhaftes und noch nicht zivilisiertes Wesen, das über die Welt und sogar über seine eigene Kultur aufgeklärt werden muss. Diese Personen mit dem kulturellen Zeigefinger gab es also noch immer, die glaubten, einen ihnen fremden Glauben besser zu verstehen als die Mitglieder dieser Glaubensgemeinschaft. Auf eine solche Erfahrung hätte sie gerade an diesem Abend gut verzichten können. In diesem Moment wurde der Saal dunkel, die Show begann.

Die Zuschauerinnen und Zuschauer lachten regelmäßig laut, sie aber war in ihren Gedanken woanders: 10 Jahre war es nun her, dass der damalige Bundespräsident Christian Wulff gesagt hat, auch der Islam gehöre zu Deutschland. Seitdem war viel passiert: Der sogenannte Islamische Staat, die NSU-Morde, die Thesen von Thilo Sarrazin, die Flüchtlingskrise, der Einzug der AfD in den Bundestag und zuletzt der Anschlag in Hanau … Die Gegner einer pluralen Gesellschaft sind mehr und lauter geworden, dachte sie. Aber es gab auch positive Entwicklungen: Die Etablierung der islamischen Theologie an den Universitäten oder die Einführung des islamischen Religionsunterrichts in manchen Bundesländern machten Mut, dass es ähnliche Freiräume religiöser und kulturelle Entfaltung und Besinnung auch für die größte religiöse Minderheit geben würde.

Das Publikum klatschte lange Beifall, die Show war zu Ende. Der Sitznachbar stand auf und drehte sich zu ihr. Sie sah nur seine Augen, weil der Rest des Gesichts vom Mund-Nasen-Schutz bedeckt war. Sie lächelte über diese Annäherung der Kulturen: er eine Art Nikab und sie einen Schleier! Zumindest äußerlich waren sie nun auf „Augenhöhe“. Gute Voraussetzung für Verständigung. Sie ging zwei Schritte auf ihn zu und sprach ihn an.


Naciye Kamcili-Yildiz ist Mitarbeiterin am Seminar für Islamische Theologie der Universtität Paderborn.