Das Wort „Religion“ ist erst im 16. Jahrhundert in die deutsche Sprache gekommen und zwar als Fremdwort, abgeleitet von dem lateinischen Wort „religio“. Vor dem Hintergrund der Reformation und der Auseinandersetzungen um den „wahren“ Christenglauben hat es im Deutschen rasch andere Bedeutungen angenommen als das lateinische Original. Das zeigt sich daran, wie Simon Roth es 1571 in seinem Teutsche[n] Dictionarius erklärt, dem ersten Fremdwörterbuch in deutscher Sprache.
„Dises wort wirt (als Cicero im bůch von der natur der Goͤtter meint) vom widerlesen hergezogen […]“
So verweist Roth eingangs auf das lateinische Wort und dessen Bedeutung. Der römische Autor Marcus Tullius Cicero (106 v. Chr.–43 v. Chr.) hatte „religio“ von dem Verb „relegere“ abgeleitet. Es bedeutet ‘wieder lesen’, ‘überdenken’. Religio hieß für Cicero das Überdenken und genaue Beachten aller Dinge, die der Mensch den Göttern schuldig ist, also die Pflicht, die Götter zu ehren, oder einfach ‘Götterverehrung’. Es hieß nicht persönlicher Glaube, nicht Glaubenslehre, nicht Gottesdienstordnung, nicht Gesetz, nicht Lebensführung, nicht Kirche. Bei Cicero bedeutete „religio“ nichts von dem, was wir heute unter „Religion“ verstehen.
Doch genau diese Bedeutungen führt Roth als neuen Sinn des Fremdworts „Religion“ im Deutschen ein:
„Wir Christen aber muͤgen solches wort der massen brauchen/ das wir die gantze andacht vnd Gottes huld eins Christlichen lebens darbey verstehn/ Als den Glauben/ Gsatz/ ordnung vnnd gebreuch der sakrament. Jtem die Verbindung Gottes mit seinen Glaubigen.“
„Wir Christen“, das war eine Beschwörung von christlicher Eintracht, während sich in Wirklichkeit die verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen gerade die Köpfe einschlugen. „Muͤgen solches wort der massen brauchen“ heißt, wir sollen es so gebrauchen, wie Roth es dann erklärt – der Wörterbuchautor wird zum Religionslehrer. Und seine Lehre ist die Verbindung von persönlicher Frömmigkeit („andacht“) und Lebensführung, von Glaubensüberzeugung, Handlungsmaximen, Gottesdienstformen und Kirche. All diese Dinge zur Übereinstimmung zu bringen war eine neue Idee des 16. Jahrhunderts; die Forschung bezeichnet sie als „Konfessionsbildung“. All diese Dinge in den Religionsbegriff aufgenommen zu haben, entsprang aus dieser Idee als eine Folge, die bis heute anhält. Unser heutiges Verständnis von Religion erweist sich als Erfindung des 16. Jahrhunderts.


Prof. Dr. Johannes Süßmann ist Professor an der Universität Paderborn für Geschichte der Frühen Neuzeit.