Das Potenzial von Ideologiekritik im Religionsunterricht

In aktuellen gesellschaftlichen und theologischen Diskursen ist der Religionsunterricht (RU) in Deutschland ein Thema, das gerade durch die zunehmende Pluralisierung von Religion(en) wieder in den Fokus rückt. Denn die Organisation von Religionsunterricht variiert stark in unterschiedlichen europäischen Ländern und politische und soziale Transformationen beeinflussen und verändern, wie RU in den jeweiligen Ländern organisiert wird. Daher stellt sich schnell die Frage nach der „besten“ Organisationsform von RU, die bezüglich der Herausforderungen durch Globalisierung, Säkularisierung und eine Pluralität an Lebens- und Glaubensformen am geeignetsten ist. Zugleich wird jedoch eben durch diese Herausforderungen die Berechtigung des RU insgesamt in Frage gestellt.

In diesem Blogbeitrag möchte ich auf das Potenzial von RU aufmerksam machen, der ideologiekritisch[1] gestaltet wird. Der RU selbst kann ideologiekritisch sein, wenn dieser „[…] zur Unterbrechung gesellschaftlicher Plausibilitäten einlädt und anhält.“[2] Prinzipiell geht es beim ideologiekritischen Argument zur Legitimation von RU darum, dass religiöse Bildung zugleich essentiell für öffentliche Bildung ist, da diese gesellschaftliche Plausibilitäten kritisch hinterfragen kann und entsprechend zu einem kritischen Bewusstsein führen kann.[3] So sollen also gerade die Denkmuster die gesellschaftlich plausibel erscheinen und gesellschaftlich legitimiert werden durch religiöse Bildung und den RU unterbrochen und reflektiert werden. Bei diesen Plausibilitäten handelt es sich auch um internalisierte Denk- und Handlungsmuster, die nicht als Ideologie wahrgenommen und nicht ausreichend reflektiert werden. Was ideologiekritischen RU außerdem besonders macht ist, dass er „[…] seine religiöse Perspektivik auf einen Gegenstand anwendet, der auch für viele religiös uninteressierte Menschen von Interesse ist: die Gesellschaft und die ihr eigene Logik der Verhältnisse. Von daher bietet es besonders günstige Voraussetzungen für die Konvertierbarkeit religiöser und nicht-religiöser Perspektiven.“

Zugleich muss jedoch auch beachtet werden, dass jede Religion und auch Ideologiekritik selbst ideologieanfällig sind. Oft wird z.B. dem Christentum vorgeworfen, Herrschaftsstrukturen zu legitimieren und einen absoluten Wahrheitsanspruch zu erheben.[4] Auch hier müssen Verstrickungen in christliche und theologische Ideologien reflektiert werden.  Ideologiekritik ist also im RU sehr komplex, da christliche und gesellschaftliche Denk- und Handlungsmuster aufeinandertreffen, die bei einigen Themen nicht übereinstimmen.[5]

Beim Beispiel der Tiertheologie (z.B. tierethische Themen im RU) stimmt jedoch der anthropozentrische Blickwinkel der (klassischen) Theologie zumeist mit der gesellschaftlichen Theologisierung von Tieren überein, sodass hier kein starker Kontrast erkennbar ist. Doch selbst hier bietet ein ideologiekritischer RU großes Reflexionspotenzial, da z.B. die Mehrdimensionalität der Bibel neue Deutungshorizonte eröffnet, die eine Alternative zum Anthropozentrismus darstellen können. So werden ideologische Verstrickungen zwischen Theologie und Gesellschaft im RU reflektiert. Ein Beispiel hierfür wäre Psalm 104 als Kontrast zum dualistischen Denksystem im Kontext der Mensch-Tier-Beziehung, der auch im RU erarbeitet werden kann.


[1] Der Begriff der Ideologiekritik bleibt in der Theologie noch inhaltlichen und kritischen Anfragen ausgesetzt. Für eine Vertiefung: Herbst, Jan-Hendrik (2018). Ideologiekritik und Religionsunterricht. Zum unabgegoltenen Potenzial des ideologiekritischen Arguments für den konfessionellen Religionsunterricht, in: RpB 79, 86-97, 92. Auch andere Argumente sprechen für den RU, wobei verschiedene Argumente zur Legitimation des RU miteinander verflochten sein können. Siehe z.B. Rudolf Englert über das funktionale und das ideologiekritische Argument in: Englert, Rudolf (2007): Religionspädagogische Grundfragen. Anstöße zur Urteilsbildung. Kohlhammer, S. 300f. Besonders die Beiträge zum Thema Ideologiekritik von Jan-Hendrik Herbst sind bei weiterem Interesse zu empfehlen, insbesondere die zitierten Beiträge, aber auch z.B.: Herbst, Jan-Hendrik (2022). Unterrichtsmaterialien als Ort der Ideologieproduktion? Perspektiven kritischer Religionsbuchanalyse in der Gegenwart, in: TheoWeb 21/1, 115-134.

[2] Herbst, Jan-Hendrik (2018). Ideologiekritik und Religionsunterricht. Zum unabgegoltenen Potenzial des ideologiekritischen Arguments für den konfessionellen Religionsunterricht, in: RpB 79, 86-97, 87.

[3] Ebd., 86.

[4] Vgl. Englert, Rudolf (2015). Ideologiekritik, in:  Burkard Porzelt & Alexander Schimmel (Hrsg.), Strukturbegriffe der Religionspädagogik, Bad Heilbrunn, 126–131, 128.

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