In den letzten Jahrzehnten hat die Männlichkeitsforschung einen bedeutenden Wandel erfahren. Während das Thema zuvor oft vernachlässigt wurde, haben Forscher*innen wie Björn Krondorfer, Martin Fischer oder Ruth Heß begonnen, kritisch über männliche Identität und Geschlechterrollen im theologischen Kontext nachzudenken.[1]Durch Beiträge wie die des Migrationsforschers Michael Tunç[2] hat sich diese Entwicklung nun auch zunehmend auf die islamische Theologie ausgeweitet. Doch was sind die Forschungsabsichten der kritischen Männlichkeitsforschung und wie kann sie sowohl der christlichen als auch der islamischen Theologie weiterhelfen?
Grundlegend formuliert, befasst sich die kritische Männlichkeitsforschung mit der Analyse und Dekonstruktion traditioneller Männlichkeitsbilder in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. In Bezug auf die Theologie zielt sie darauf ab, die Vorstellungen von Männlichkeit innerhalb der religiösen Lehren und Praktiken zu untersuchen und aufzubrechen. Dabei wird deutlich, dass Männlichkeit nicht als ein statisches und unveränderliches Konzept betrachtet werden sollte, sondern als soziale Konstruktion, die von historischen, kulturellen und religiösen Einflüssen geprägt ist. Sie versteht sich somit, ausgehend von den Errungenschaften des Feminismus und einer sensiblen Auseinandersetzung mit den Fragestellungen rund um das Thema Genderkonstruktionen als Kritik an patriarchalischen Vorstellungen. In diesen wurden und werden Männer traditionell als das Haupt der Familie und der Gemeinschaft angesehen, während Frauen eher eine unterstützende und dienende Rolle zugewiesen bekamen und bekommen. Diese Rollenverteilung wurde oft mit religiösen Argumenten gerechtfertigt und als Teil der göttlichen Ordnung betrachtet. Durch die Auseinandersetzung mit theologischen Texten und Traditionen suchen Forscher*innen nach neuen Interpretationen, die Geschlechtergerechtigkeit und einen gleichberechtigten Umgang mit männlichen und weiblichen Identitäten fördern.[3]
In der christlichen Theologie spielt die kritische Männlichkeitsforschung eine zentrale Rolle dabei, traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit zu hinterfragen und aufzuzeigen, wie diese Vorstellungen zur Unterdrückung von Frauen beitragen konnten und immer noch können. Es geht folglich darum, biblische Texte und theologische Traditionen neu zu interpretieren und eine Theologie zu entwickeln, die auf Gleichstellung, Partnerschaft und Respekt basiert. Dieser Ansatz ermutigt Männer dazu, sowohl ihre Privilegien als auch ihre Nachteile innerhalb patriarchaler Gesellschaftsstrukturen zu reflektieren und aktiv an der Förderung von Geschlechtergerechtigkeit mitzuwirken.
Ähnlich wie in der christlichen Theologie hat die kritische Männlichkeitsforschung auch in der islamischen Theologie an Bedeutung gewonnen. Sie hinterfragt die traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit, die in einigen islamischen Gemeinschaften vorhanden sind, und ermutigt zu einer Neubewertung der Rolle und Verantwortung von Männern im religiösen Kontext. Die islamisch-kritische Männlichkeitsforschung setzt sich für eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern in der Gesellschaft und in religiösen Institutionen ein und betont die Wichtigkeit einer geschlechtergerechten Interpretation der islamischen Texte. Hier kann sie auf die wichtigen Vorarbeiten der islamischen Frauen- und Geschlechterforschung aufbauen.
Exemplarisch für diesen neuen Weg der theologischen Reflexion steht dafür die erst kürzlich stattgefundene und von ihrer historischen Bedeutung nicht zu unterschätzende Tagung „Eine Frage des Geschlechts? Islamisch-theologische Perspektiven für eine gendergerechte Theologie der Gegenwart“, die vom 11. bis 13. Mai 2023 in Münster stattfand und sich dem begrüßenswerten Versuch widmete, die islamische Frauen- und Geschlechterforschung als eigenständige theologische Disziplin zu systematisieren.[4] Die sich bereits im Etablierungsprozess befindliche Frauen- und Geschlechterforschung kann Synergien mit der kritischen Männlichkeitsforschung schaffen, indem sie gemeinsam traditionelle Vorstellungen hinterfragen und so zur Entwicklung einer inklusiveren und gendergerechteren Theologie der Gegenwart beitragen. Da die Geschlechterforschung als solche etablierte Normen und Traditionen infragestellt, ist eine symbiotische Zusammenarbeit zwischen Frauen- und kritischer Männlichkeitsforschung auch aus dem Grund zu wünschen, um den spürbaren Widerstand und die bestehenden Herausforderungen adäquat begegnen zu können.
[1] Martin Fischer, Ruth Heß, Systematisch theologische Männerforschung als Beitrag zur Gleichstellung der Geschlechter, in: Heike Walz/ David Plüss (Hg.), Theologie und Geschlecht. Dialoge querbeet, Zürich/Berlin 2008, S. 158-190. Björn Krondorfer, Die Religion entdeckt den ‚Mann’. Kritische Männerforschung in Religion
und Theologie, Schlangenbrut 115 (2011), 35-37.
[2] Michael Tunç, Männlichkeitskritik, Islam und Transformation in Forschung Praxis. In: Cibedo-Beiträge 4 (2021), 161-167.
[3] Besonders: Dina El Omari, Koranische Geschlechterrollen in Schöpfung und Eschatologie. Versuch einer historisch-literaturwissenschaftlichen Korankommentierung (Islamische Theologie im Aufbruch 2), Freiburg i. Br. 2021.
[4] https://www.uni-muenster.de/ZIT/interkulturelle_religionspaedagogik/arbeitsstelle_islamisch-theologische_genderforschung/Tagung_Eine_Frage_des_Geschlechts.html (26.05.2023).
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David Koch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Koran und Koranexegese am Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) der Universität Münster.
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