„Schulter an Schulter dienen“ (Zef 3,9). Reflexionen zu einer jüdisch-christlichen Dialogreise

Arrival 20:00 CET in Frankfurt am Main. Die Uhr springt wieder zurück, Zeitverschiebung. Eine Stunde war ich in der letzten Woche der Zeit hierzulande voraus, in Jerushalayim, Stadt des Friedens, al-Quds, die Heilige. Jerusalem ist ein besonderer Ort, nicht nur für Juden, Muslime und Christen, aber in besonderer Weise für sie, die ‚Kinder Abrahams‘. Auf engstem Raum zwischen den Mauern und in den Gassen der Altstadt, vom Tempelberg und derKotel, der sogenannten Klagemauer bis zur Grabeskirche verdichten sich Sehnsüchte, Erwartungen, aber auch Ansprüche und Konflikte.

Für eine Woche hat sich die bei der Deutschen Bischofskonferenz angesiedelten Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum auf den Weg nach Jerusalem gemacht, zusammen mit drei Rabbinern aus der Orthodoxen bzw. Allgemeinen Rabbinerkonferenz in Deutschland. Im Zentrum der Reise steht der jüdisch-christliche Dialog, als gedachter Rahmen, aber auch im tagtäglichen Vollzug: im gemeinsamen Lernen talmudischer Texte, im Austausch mit Gesprächspartnerinnen und -partnern vor Ort über orthodoxe Toraschulen für Mädchen und Frauen, über jüdische Medizinethik am Lebensende, über Orthodoxie und Feminismus, über die verschiedenen jüdischen Gruppen und Strömungen und nicht zuletzt über die Herausforderungen der aktuellen politischen Entwicklungen in Israel. Und auch die gemeinsame Feier von Kabbalat Schabbat in verschiedenen Synagogen der Stadt sowie ein gemeinsamer Schiur zu den Lesungstexten des Schabbats bzw. Sonntags geben der Dialogreise ihr Gesicht. Ein gemeinsamer Besuch der Schoa-Gedenkstätte Yad Vashem erinnert die jüdisch-christliche Beziehungen an ihre historische Hypothek. 

Die Reise steht im Kontext eines besonderen Dialogprozesses zwischen orthodoxem Judentum und Katholischer Kirche in der jüngsten Vergangenheit:[1] Denn genau 70 Jahre nach Ende der Schoa und 50 Jahre nach der Verabschiedung der Konzilserklärung Nostra aetate würdigen orthodoxe Rabbiner und Verantwortliche aus Israel, den USA und Europa in der Erklärung „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun: Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen“ (2015) die positiven Errungenschaften des Dialogprozesses zwischen Katholischer Kirche und Judentum. Sie verstehen Juden und Christen ausdrücklich als Partner, ‚um den moralischen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen‘ und ‚gemeinsam eine aktive Rolle bei der Erlösung der Welt übernehmen‘ zu können, auch angesichts bleibender Differenzen in Theologie und Spiritualität. Wiederum im Lichte des Jubiläums der Konzilserklärung entsteht das zweite Dokument „Zwischen Jerusalem und Rom. Gedanken zu 50 Jahre Nostra aetate“ (2016), verfasst von hochrangigen internationalen Vereinigungen des orthodoxen Judentums. Zusammen mit dem Dokument „Dabru emet“ (2000), das mehrheitlich von liberalen und konservativen Rabbinern und jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichnet worden ist, verstehen sich alle Erklärungen in unterschiedlicher Weise als Impulsgeber für die Verständigung von Juden und Christen.

Als erste offizielle katholische Reaktion auf diese Erklärungen kann das Dokument der Deutschen Bischofskonferenz „Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes“ (2019) gelten. Der Text würdigt die jüdische Wertschätzung der Konzilserklärung und bestätigt, dass sich Juden und Christen trotz theologischer Differenzen als Partnerinnen und Partner in der einen Welt verstehen können. Ganz im Sinne der Konzilserklärung gehöre dazu, „in grundlegender Verbundenheit mit der Tradition Israels sowie mit den jüdischen Glaubensgeschwistern heute den Tag zu erwarten, ‚der nur Gott bekannt ist, an dem alle Völker mit einer Stimme den Herrn anrufen und ihm ‚Schulter an Schulter dienen‘ (Zef 3,9)‘ (NA 4)“[2].

In all diesen Erklärungen wird nicht nur eine bleibend aktuelle theologische Programmatik für den jüdisch-christlichen Dialog heute und morgen festgeschrieben, sondern auch ein geistlicher Erfahrungsraum: zukünftig ‚Schulter an Schulter‘ zu lernen, im gemeinsam geführten Dialog Welt und Wirklichkeit zu verstehen und als Partnerinnen und Partner den vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit in Politik, Kultur und Gesellschaft zu begegnen. 


[1] Die im Folgenden zitierten Erklärungen und weitere für die christlich-jüdischen Beziehungen (aus katholischer Sicht) relevante Texte sind enthalten in: „Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes“ (Papst Franziskus). Texte zu den katholisch-jüdischen Beziehungen seit Nostra aetate, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2019 (Arbeitshilfe Nr. 307). https://www.dbk-shop.de/de/publikationen/arbeitshilfen/gott-wirkt-weiterhin-volk-alten-bundes-papst-franziskus.html

[2] Ebd.  S. 202.

Gerd Eichmann, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jerusalem-Klagemauer-08-2010-gje.jpg

Prof. Dr. Jan Woppowa ist Professor für Religionsdidaktik am Institut für Katholische Theologie an der Universität Paderborn und Berater der bischöflichen Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum.

#Judentum #Christentum #KatholischeKirche #Bischofskonferenz #Jerusalem #Dialog #Israel #Orthodoxie