Grenzen und Schein-Grenzen

Liebe Leser:innen,

gerade trinke ich meinen ersten Kaffee im neuen Jahr auf der Arbeit. Das klingt nach Aufbruch, Neuanfang und guten Vorsätzen für das neue Jahr. Und doch, habe ich nicht vor zwei Wochen an eben dieser Stelle schon einmal einen Kaffee getrunken? Und viele Tage davor auch? Und werde ich nicht auch morgen und die nächsten Tage Kaffees an dieser Stelle trinken? Eigentlich wollte ich mich auch noch Ende Dezember mit einer guten Freundin auf einen Kaffee treffen, „vor dem Jahresende“. Das hat nicht mehr geklappt, aber was sie daraufhin sagte, hat mir zu denken gegeben: „Ach, das ist ja auch nur eine Scheingrenze“. Klar, wir werden uns eh noch häufiger sehen. Niemand von uns zieht zum Beispiel um. Das wäre eine wirkliche Grenze und hätte die Dringlichkeit für ein Treffen ungleich höher gemacht. Für uns wird es aber trotz des neuen Jahres wie üblich mit dem Kaffeetrinken weitergehen. 

Der Jahreswechsel, eine Scheingrenze? Ein Jahr nur als stumpfes Abzählen von Tagen, damit ein wenig Ordnung herrscht? Und für die Menschen ändert sich nichts? Schaut man in die Natur und damit verbunden auch in die Religionen, ist ein zyklischer Jahresablauf gängiger Usus. Im Frühling fängt das Grün an zu sprießen, im Sommer steht es im vollen Saft, im Herbst beginnt es zu sterben, im Winter ist es tot, nur um daraufhin im Frühling wieder zu erstarken. Abhängig vom Sonnen- oder Mondkalender kennen auch Judentum, Christentum, Islam und auch andere Religionen bestimmte wiederkehrende Abläufe in ihren Kalendern. Aber gilt auch hier nicht: alles wie immer? Ein Jahr nach Purim findet wieder Purim statt und wenn der Klimawandel uns nicht erneut einen Strich durch die Rechnung macht, ist in einem Jahr vermutlich wieder Winter. 

Dennoch bieten diese verschiedenen Zyklen auch Platz für Reflexion, für Grenzüberschreitungen oder Änderungen. Der Ramadan und die Fastenzeit vor Ostern werden von den jeweiligen Religionen bewusst dazu genutzt, in sich zu gehen und Revue passieren zu lassen. Auch der Karfreitag stellt eine Zäsur dar, wenn für das Christentum der Erlöser stirbt, um dann in der Osternacht wieder aufzuerstehen. Welch eine Grenzüberschreitung! Der Winter mit seinen kahlen Bäumen ist ebenso eine Zäsur und wie schön ist es, wenn die ersten grünen Stängel zu Beginn des Frühlings wieder aus dem Boden sprießen. Und gerade, aber nicht nur für säkulare Menschen bietet der Jahreswechsel auch eine Art von Reflexion, sind gute Vorsätze eben die Reaktion auf Ereignisse oder Eigenschaften, die im letzten Jahr nicht so gut liefen. Ist der Jahreswechsel also doch eine Grenze? 

Ich denke, dass ein Jahreswechsel oder eine wie auch sonst geartete Änderung in einem Jahresablauf beides sein kann, eine Grenze wie auch eine Scheingrenze. Für die „Realität des Alltags“, wie es Aaron Langenfeld an dieser Stelle letzte Woche beschrieb, ist ein Jahreswechsel sicherlich eine Scheingrenze. Kaffeetrinken im Büro oder mit Freund:innen finden genauso statt wie Telefonate, E-Mails oder Zähneputzen. Zäsuren und bestimme Termine und Zeiten können dennoch auch als Grenzen und als Überschreitung dieser Grenzen genutzt werden. Gerade in spiritueller Hinsicht bieten sie die Möglichkeit der Reflexion und des Krafttankens für kommende Zeiten, sei es durch neue Vorsätze zu Beginn eines neuen Jahres oder zum in-sich-gehen in religiös wichtigen Zeiten.

In diesem Sinne wünsche auch ich ein frohes neues Jahr 2023, mit guten spirituellen Reflexionen und zumindest möglichst stressfreiem Alltag.

Benedikt Körner ist Referent für den Interreligiösen Dialog sowie Sekten- und Weltanschauungsfragen des Erzbistums Paderborn.

#Grenze #Scheingrenze #Alltag #Reflexion #Neujahr #Jahreswechsel