Praktiken der Fürsorge – Lernort für Mitgeschöpflichkeit oder Werkzeug des Community Kapitalismus?

Fürsorge oder Care-Praktiken begleiteten und prägen menschliche Beziehungen vom Moment der Geburt an. Ihre Bedeutung zeigt sich besonders auch dort, wo Erfahrungen existentieller Vulnerabilität eine Hinwendung zu oder von Anderen erforderlich werden lassen. Fürsorge, ein aufeinander Achtgeben und füreinander Sorgen, hat eine zentrale Stellung in den hellenistisch-römischen Entstehungsmythologien, dem christlichen Nächstenliebeindikativ oder der afrikanischen Ubuntu-Philosophie. Spätestens seit Carol Gilligans Untersuchungen zur moralischen Dimension von Fürsorge-Praktiken werden gerechtigkeits- und autonomiefixierte Moraltheorien neu vermessen. Auch unter sozialpolitischen Vorzeichen erzeugen Care-Praktiken ein wichtiges Gegengewicht zur Singularisierung, übersetzen sich in eine Kultur des Helfens und bilden mit den subsidiären Sicherungssystemen das Rückgrat des Sozialstaates.

Die Perspektive der Fürsorge sensibilisiert insgesamt für den konkreten Einzelfall und orientiert sich uneigennützig am Wohl der Anderen. Im Ehrenamt und sozialen Engagement realisiert die hinwendende Sorge um die Andere so einen Lernort für un-verrechnende Mitgeschöpflichkeit, erinnert jenseits zweckrationaler Nutzenlogik an die Bedeutung von Beziehungen und ermöglicht so nicht zuletzt, neue Formen einer konvivialen Lebensweise zu entdecken und erproben. 

Gleichwohl stehen Fürsorge-Praktiken unter dem Verdacht paternalistischer Vereinseitigung und subjektiver Lebensqualitäts-Projektion. Unabhängig davon, ob solche Verdachtsmomente angesichts anspruchsvoller Care-Ethiken überhaupt noch sinnvoll formuliert werden können, wird die Care-Praxis, d.h. die sorgende Hinwendung zu den Nächsten – ob Menschen oder Tiere – in den letzten Jahren zunehmend auch von feministischer Seite kritisiert. 

So lässt sich u.a. problematisieren, dass Fürsorge- und Care-Perspektiven meist mit weiblich-binären, essentialistischen Rollenvorstellungen identifiziert werden und diese verstetigen. So ist Fürsorge in denjenigen Arbeiten als handlungsleitende Haltung anzutreffen, die – wie Kinderbetreuung, Krankenversorgung oder Angehörigenpflege – historisch gesehen hauptsächlich durch Frauen geleistet wurden. Insofern solche Care-Arbeiten zudem meistens informell, d.h. unbezahlt und sozialversicherungsrechtlich ungeschützt verrichtet werden, begünstigen sie nicht nur Altersarmut bei Frauen, sondern verstärken auch die Ent-Professionalisierung dieser Tätigkeiten und verstetigen so soziale Ungleichheit. Die immer noch in den kulturellen Narrativen enthaltene und unter Systemdruck rehabilitierte Verknüpfung von „Fürsorge – Care-Arbeit – Frauensache“ aber ebenso die digitale Plattformisierung der Arbeitsmärkte pervertieren das Fürsorge-Ideal. 

So geben die Soziologinnen Silke van Dyk und Tine Haubner zu bedenken, dass die Zunahme informeller Sorgearbeit dort neoliberale Marktlogik soufflieren, wo die an Mitmenschlichkeit und Gemeinschaft ausgerichtete Fürsorge-Perspektive die subsidiäre Verantwortung des Staates ablöst. Dieser Community-Kapitalismus instrumentalisiert den Fürsorge- und Gemeinschaftsgedanken nicht nur, sondern entpolitisiert die Arbeitsmarkt-Partizipation zunehmend. In der sozialethischen Reflexion auf den Wandel der Erwerbstätigkeit gilt es vor dem Hintergrund also immer auch zu klären, wie sich strukturell und kulturell unterstützen lässt, dass mit Praktiken der Fürsorge so dringend benötigte Lernorte für Mitgeschöpflichkeit eröffnet werden ohne dabei gleichsam einen Community-Kapitalismus zu befördern.

Dr. Anne Weber ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Christliche Sozialethik an der Theologischen Fakultät Paderborn.

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