Meine vierjährige Tochter hat eine sehr lebhafte Fantasie und sie liebt Einhörner. Von daher kann es eigentlich nicht überraschen, dass jetzt eine ganze Herde Einhörner in ihr Zimmer eingezogen ist. Wenn ich sie abends drücke, muss ich aufpassen, dabei keinem Einhorn weh zu tun. Und wenn sie schlafen soll, hüpft eines der Einhörner umher, und sie muss es einfangen und zu mir bringen. Einhörner spielen eine wichtige Rolle in unserem Haushalt, seit meine Tochter coronabedingt nicht mehr in den Kindergarten gehen darf.
Praktischerweise kann niemand außer meiner Tochter die Einhörner sehen. Nur neulich beim Wandern im Siebengebirge meine ich selbst kurz ein Einhorn gesehen zu haben und bin dadurch in der Achtung meiner Tochter gestiegen. Das Einhorn war gelb und etwas scheu. Auch ein fremder Wanderer hat uns bestätigt, dass er das Einhorn kurz gesehen hat, sodass es auch unabhängige Evidenz für seine Existenz gibt. Dank der Einhörner geht meine Tochter jetzt jedes Wochenende gerne mit uns wandern, weil sie immer wieder hofft, dass das gelbe Einhorn wiederkommt.
Mein sechsjähriger Sohn hält das alles für total verrückt und sagt ihr, dass es keine Einhörner gibt. Sie verweist dann darauf, dass Einhörner unsichtbar sind. Er repliziert, dass sie sie dann ja nicht sehen kann. Sie erinnert an mein Sehen und an den fremden Wanderer. Man könne eben auch Unsichtbares sehen. Mein Sohn guckt mich zweifelnd und kopfschüttelnd an.
Eigentlich bin ich geneigt, meiner Tochter ihre Traumwelt zu lassen, wenn sie ihr in ihrem kinderlosen Alltag hilft. So wie ich auch irrationale religiöse Überzeugungen dann stehen lasse, wenn sie pragmatisch heilsame Konsequenzen im Leben von Glaubenden haben. Doch gestern abend wurde es heikel für mich. Meine Tochter wollte an unser Abendgebet ein Gebet mit ihren Einhornfreunden anschließen. An dieser Stelle hörte für mich der Spaß auf und zur großen Befriedigung meines Sohnes habe ich meine väterliche Autorität genutzt, um das Gebet der Einhörner zu unterbinden. Ich wollte nicht, dass die Welt des Glaubens mit der Welt der Fantasien meiner Tochter verschmilzt.
Doch natürlich haben die Einhörner dann später heimlich gebetet – mit meiner Tochter zusammen. Ihr Gebet war nicht hörbar wie sie ja auch nicht sichtbar sind. Es hat mich also auch nicht gestört. Ich kann meine Tochter da weiter lassen. Nur gemeinsam beten mit Einhörnern kann ich nicht. Es braucht auch ein Mindestmaß an Rationalität, um Religiosität gemeinsam praktizieren zu können. Denn Religion soll uns an die Wirklichkeit heranführen, nicht in eine Fantasiewelt.
Klaus von Stosch ist Professor für Katholische Theologie und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) an der Universität Paderborn.