Immer wenn ich in Israel bin, fühle ich mich mit meinen israelischen Gastgebern zutiefst verbunden. Ich freue mich mit ihnen über all das, was sie in diesem Land aufgebaut haben und verstehe, wie sehr sie sich ausgesetzt fühlen in der sie umgebenden Welt und sich schützen wollen. In diesen Tagen leide ich mit ihnen an dem kaltblütigen Egoismus Netanjahus und seinem dreisten Versuch per Wahlen den ihn bedrohenden Gerichtsprozess zu verhindern. Und ich leide mit ihnen an der Zerrissenheit der israelischen Gesellschaft, die die ständigen Neuwahlen immer offenkundiger macht – eine Zerrissenheit, die uns ja auch in Europa in ihrer Weise immer mehr beschäftigt. Immer wenn ich in Israel bin, fühle ich mich tief hineingenommen, in dieses großartige Land und hineingezogen in seine Erinnerungen, Leiden und Ängste.
Wenn ich dann nach Palästina gehe – etwa indem ich von Jerusalem nach Betlehem komme –, erlebe ich eine völlig andere Situation mit ganz anderen Geschichten. Ich sehe die Mauer, erlebe die Schikanen beim Grenzübertritt und erfahre in schöner Regelmäßigkeit, wie es ist, buchstäblich nackt als Sicherheitsrisiko eingestuft zu werden. Ich fühle mich hineingezogen in andere Leidensgeschichten und nehme teil an anderen Erinnerungen – die oft genug den Erzählungen meiner israelischen Gastgeber spiegelbildlich gegenüberstehen.
Ich fühle mich hier oft ratlos und weiß nicht so recht, wie ich diese beiden Perspektiven hilfreich zusammenbringen soll. In diesen Tagen fällt mir immer wieder ein Gedanke des kürzlich verstorbenen politischen Theologen Johann Baptist Metz ein. Er lädt uns dazu ein, den Kern des Erbes Israels darin zu sehen, die Schrecken der Geschichte klagend-anklagend vor Gott zu bringen. Er lädt uns ein, unsere Leidenserinnerung nicht zu verdrängen, sondern zu artikulieren. Vor allem aber lädt er uns ein, die Leidensgeschichte der anderen kennenzulernen. Wir sollen ihren Geschichten zuhören, uns ihnen aussetzen, ihre Wahrheit ertragen. Nur auf diese Weise kann seiner Diagnose nach der Konflikt zwischen Israel und Palästina befriedet werden.
Dabei geht es nicht nur um das Erzählen von Leidensgeschichten und das Hören aufeinander, sondern auch um das gemeinsame Arbeiten an unseren Erinnerungen, an unseren normativen Texten, an deren befreienden und herausfordernden Potenzialen. Vielleicht sollten wir einfach mehr zwischen Jerusalem und Betlehem hin- und hergehen – in aller Ratlosigkeit, aber in der festen Absicht allen zuzuhören, weil Gott all unsere Geschichten hören will.
Prof. Dr. Klaus von Stosch ist katholischer Theologe und Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften