Die kürzeste Definition von Religion ist Unterbrechung; so hat der katholische Theologe Johann Baptist Metz formuliert. Der Abbruch des Erwartbaren, des Alltäglichen und Selbstverständlichen wird damit zur Kernbestimmung des Glaubens. Keinen Zeitpunkt im Kirchenjahr verbinde ich stärker mit dieser Definition als den Beginn der Fastenzeit. Der bewusste Verzicht auf dieses oder jenes für den Zeitraum von Aschermittwoch bis Ostern bedeutet in diesem Sinne in der christlichen Praxis immer mehr als bloße Askese. Beispielsweise auf Fleisch, Alkohol oder Süßigkeiten zu verzichten, unterbricht die Annehmlichkeiten des Alltags und sensibilisiert neu für ihren Wert. Das Fasten – so zeigt für mich immer wieder eindrucksvoll die islamische Fastenzeit – kann daher Gemeinschaft stärken, weil soziale und kulturelle Unterschiede im gemeinsamen Handeln von einer größeren Einheit umfasst werden. Das Fasten lehrt in einer theologischen Deutung zuletzt aber auch das Bewusstsein über den absoluten Abbruch des Erwartbaren durch Krankheit und Tod. Die Fastenzeit verweist uns darauf, dass die Dinge, die unseren Alltag schöner und womöglich überhaupt erst erträglich machen, nicht über ihre Vorläufigkeit und Zufälligkeit hinwegtäuschen können. Das Schöne und Gute im Leben ist zuletzt nur scheinbar selbstverständlich. Das Fasten kann so eine handfeste Einübung in ein letztes Loslassenmüssen, eine Anerkennung in die Unverfügbarkeit der eigenen Existenz sein.
Derzeit werden wir regelmäßig von Unterbrechungen des Selbstverständlichen überwältigt: Noch immer hat uns eine Pandemie im Würgegriff und neuerdings steht die für die meisten von uns alltäglich gewordene Friedensordnung Europas infrage. Die Dramatik der Ereignisse zeigt die Fragilität und Vorläufigkeit unserer Pläne und Absichten, sie konfrontiert uns mit Elend und Tod und damit zugleich mit dem, was nicht in unserer Macht ist. Es scheint ein guter Zeitpunkt für ein bewusstes Fasten, für eine Einübung in die Annahme, dass unsere Erwartungen jederzeit unterbrochen werden können, eine Einübung in die Frage, was wirklich von Bedeutung für uns ist. In christlicher Sicht ist dieses zuerst und zuletzt Bedeutungsvolle das In-Beziehung-Sein mit anderen, Freundschaft, Familie, Gemeinde etc. Darin wird bereits im Fasten Ostern antizipiert als die Hoffnung auf das Nicht-Selbstverständliche schlechthin, dass nicht der absolute Abbruch, sondern das In-Beziehung-Sein, das hier und jetzt schon unser Leben begründet, das letzte Wort behält.
Prof. Dr. Aaron Langenfeld ist Professor für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaften an der Theologischen Fakultät Paderborn.
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