Gebärdensprache und Gehörlose im Osmanischen Palast?

Seit vielen Jahren beschäftige ich mich intensiv mit dem Thema Inklusion. Eines meiner spannendsten Ergebnisse aus wissenschaftlichen Recherchen war die Entdeckung historischer Zeugnisse über gehörlose Bedienstete im osmanischen Palast. Inmitten dieser prunkvollen, vielschichtigen Welt stieß ich auf Darstellungen, die mich tief beeindruckten und zugleich zu kritischer Reflexion sowie tiefergehenden Nachforschungen anregten.

Laut Historikern wie Balcı weisen Quellen darauf hin, dass Gehörlose im Palast des Sultans lebten, lernten und arbeiteten – dies reicht möglicherweise bis in die Zeit des Sultans Yıldırım Beyazit (gest. 1403) zurück (Balci, 2013). Andere Historiker, darunter Ismail Baykal und Bernard Lewis, argumentieren hingegen, dass dies zeitlich erst bei Mehmet II. (gest. 1481), dem Eroberer, angesetzt werden könne (Scalenghe, 2014). Auch europäische Diplomaten berichten über die Existenz gehörloser Bediensteter im Palast. So schrieb der 1555 in Istanbul anwesende österreichische Diplomat Busbecq, dass die Gehörlosen die wichtigsten Bediensteten des Sultans waren und ihnen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde (Balci, 2013). Diese Bediensteten übernahmen vielfältige Aufgaben – von einfachen Dienstleistungen über sicherheitsrelevante Wachaufgaben bis hin zur Unterhaltung und dem Vollzug von Strafen. Zudem belegen die Quellen, dass die Gebärdensprache nicht nur unter den gehörlosen Bediensteten, sondern auch zwischen dem Sultan, seinen Bediensteten und den Familienmitgliedern des Sultans aktiv genutzt wurde. Der schwedische Diplomat Claes Ralamb, der 1657 den Sultan Mehmet IV. besuchte, berichtet, dass der Sultan in einer anderen Sprache, nämlich mittels Zeichen, mit seinen Bediensteten kommunizierte, und diese seine Anweisungen genauestens verstanden und befolgten. Der englische Historiker Paul Rycaut beschreibt, dass die Unterhaltungen der gehörlosen Bediensteten über einfache Sachverhalte hinausgingen. Vielmehr waren sie in der Lage, sich in ihrer eigenen Sprache präzise auszudrücken. Sie konnten Geschichten aus dem Leben ihres Propheten, Erzählungen ihrer Religion sowie die Gesetze und Inhalte des Korans wiedergeben. Darüber hinaus war diese Sprache im gesamten Sultanspalast, bis einschließlich des Harems, bekannt und wurde auch von hörenden Bediensteten und den Familienmitgliedern des Sultans genutzt. Scalenghe verweist darauf, dass dies auf eine lange Tradition einer systematisch entwickelten Gebärdensprache im Sultanspalast hindeutet (Scalenghe, 2014). Die Vorstellung, dass gehörlose Bedienstete nicht nur einfache Aufgaben übernahmen, sondern auch hochkomplexe Inhalte diskutierten, eröffnet eine neue Perspektive auf das Leben im Palast sowie auf moderne Forschungsansätze zur Inklusion.

Doch bevor wir die Rolle dieser Menschen als historische Inklusionsleistung feiern, sollten wir innehalten und kritisch differenzieren. Der Begriff „Inklusion“ ist ein moderner Begriff und sollte mit Bedacht verwendet werden. Inklusion, wie sie heute verstanden wird, setzt eine bewusste, gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen voraus. Die Einbindung gehörloser Bediensteter im osmanischen Palast war jedoch eher eine pragmatische Entscheidung, die den spezifischen Anforderungen der Palastverwaltung und den politischen Notwendigkeiten entsprach. Eine direkte Übertragung moderner Inklusionskonzepte auf diese historische Situation wäre daher problematisch und würde den historischen Kontext verfälschen. Es wäre verkürzt, das osmanische Beispiel als Blaupause für moderne Inklusion zu betrachten. Die historische Realität war in vielerlei Hinsicht anders, und es wäre irreführend, die Gegebenheiten des Palastes als Vorläufer unserer heutigen Inklusionspolitik zu idealisieren. Dennoch zeigt uns diese Geschichte, dass Inklusion in verschiedenen Kulturen und Epochen unterschiedlich gelebt wurde – manchmal bewusst, oft aber auch unbewusst oder aus praktischen Erwägungen. Die heutige Forschung muss diese historischen Zeugnisse differenziert betrachten und daraus Ansätze für eine breitere, historisch fundierte Perspektive auf Inklusion entwickeln.

Die im Palast entwickelte Gebärdensprache bleibt ein faszinierendes Beispiel, das uns daran erinnert, dass Menschen mit Behinderungen, wenn ihnen die richtigen Mittel zur Verfügung stehen, nicht nur gleichberechtigt partizipieren, sondern auch Schlüsselrollen in der Gesellschaft übernehmen können. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind heute von unschätzbarem Wert. Indem wir solche historischen Beispiele kritisch und differenziert betrachten, können wir wertvolle Einsichten für die heutige Inklusionsdebatte gewinnen. Die Vergangenheit liefert keine Blaupausen für heutige Inklusionsstrategien, bietet jedoch wertvolle Impulse dafür, wie wir den Begriff der Teilhabe in seiner ganzen Komplexität verstehen und weiterentwickeln können. Klicken oder tippen Sie hier, um Text einzugeben.

Literaturverzeichnis

Balci, S. (2013). Osmanlı Devleti‘nde Engelliler ve Engelliler Eğitimi. Sağır, Dilsiz ve Körler Mektebi.

Scalenghe, S. (2014). Disability in the Ottoman Arab World. 1500-1800.