„Das sehr weite Verständnis der USA von der Reichweite bewaffneter Konflikte sowie die offiziell vertretene Annahme, Angriffe seien selbst außerhalb bewaffneter Konflikte präventiv schon zulässig, wenn ein potenzieller Gegner noch keinen konkreten Angriff plant, wecken Zweifel, ob die generelle Einsatzpraxis für Angriffe […] dem Unterscheidungsgebot des humanitären Völkerrechts genügt. […] Der Senat hat keine Anzeichen dafür feststellen können, dass diese völkerrechtlich zum Schutz der Zivilbevölkerung zwingend notwendige Differenzierung in ausreichendem Maße erfolgt. Verlässliche Informationen über Drohnenangriffe […] einschließlich solcher von offiziellen amerikanischen Stellen deuten vielmehr darauf hin, dass die völkerrechtlich erforderliche Unterscheidung nicht nur im Einzelfall nicht genügend vorgenommen wird.“
Diese sehr treffende und völkerrechtlich in sich stimmige Passage aus dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 19.03.2019 zum Drohnenkrieg der USA vom bundesdeutschen Boden aus hat – wie ich meine – unmissverständlich deutlich gemacht, dass die US-amerikanische Praxis der „extrajudicial killings“ (außergerichtliche Tötung) mit dem internationalen Völkerrecht unvereinbar ist. Die US-amerikanische Interpretation des Völkerrechts, die im Rahmen ihres „war on terror“ jedes ihrer Zielobjekte so behandelt, als seien sie staatliche Angreifer, sieht in „extrajudicial killings“ ein völkerrechtlich zulässiges militärisches Mittel. Zwar hat die Revision der Bundesregierung gegen das Münsteraner Urteil beim Bundesverwaltungsgericht im November 2021 Erfolg gehabt, aber das letzte Wort hat in diesem Herbst das Bundesverfassungsgericht unter der Leitung des Verfassungsrichters Peter M. Huber, der hoffentlich entlang der Argumentation des Münsteraner Urteils die Völkerrechtswidrigkeit der „extrajudicial killings“ nochmals für die Rechtsprechung und Lehre konkretisieren wird. Als in der vergangenen Woche Aiman al-Sawahiri, der Anführer des Terrornetzwerks Al-Qaida, in Kabul auf den Balkon seiner Wohnung mittels zweier sprengstofffreier Geschosse, die mit einem Gewicht von je 45 Kilogramm und ausfahrbaren Klingen, in kaum auffindbare Fetzen heimtückisch ermordet wurde, war den Leitmedien wichtiger, sich der Begeisterung für die US-amerikanische Drohnentechnik hinzugeben, als nach der Rechtmäßigkeit der heimtückischen Tötung eines Schwerverbrechers zu fragen. Und unsere Politiker: Schweigen vor dem Freund! Keine Silbe dazu, dass der Mord eines dringend verdächtigen mutmaßlichen Schwerverbrechers und Terroristen in Kabul ebenso einen Verstoß gegen die UN-Menschrechtskonvention (Art. 3, 8, 9, 10, 11) und die Europäische Menschrechtskonvention (Art. 2, 6) darstellt, wie etwa der Mord eines mutmaßlichen Schwerverbrechers in Deutschland oder den USA.
Ebenso schweigsam waren die Vertreter der Religionsgemeinschaften. Dabei gab es schon furchtlose und aufrichtige Stimmen gegen die endlose Spirale der Rachegelüste gegenüber mutmaßlichen Terroristen. Nicht nur Papst Franziskus oder der katholische Theologe Eugen Drewermann argumentierten immer wieder ausgehend von Feindesliebe im Christentum für die Durchbrechung der Gewaltspirale, sondern auch die evangelische Theologin Margot Käßmann forderte als EKD-Vorsitzende im Jahre 2016 „Terroristen mit Beten und Liebe zu begegnen“. Gemeint war durch Käßmann, dass Rachegelüste keinen Platz haben sollten in der staatlichen Terrorbekämpfung und die Christen sich der Stärke der Feindesliebe bewusst sein sollten.
Für mich, mit dem Herkunftsland Afghanistan, der durch den Terror der Taliban nicht nur seine Wurzeln verloren hat, sondern zahlreiche Familienangehörige, ist die eindrucksvolle Feindesliebe im Christentum eine Herausforderung und zugleich Einladung in meiner eignen religiösen Tradition nach Anknüpfungspunkten der Durchbrechung der emotionalen Vergeltungslogik zu suchen. So heißt es in einer bemerkenswerten Koranpassage: „Nicht gleichen einander die gute Tat und die schlechte. Wehre ab mit der besseren! Dann ist der, mit dem du in Feindschaft lebst, wie ein inniger Freund und Beistand.“ (41:34) Mag eine solche Koranpassage in Anbetracht des Leids durch den internationalen Terror verstören und weltfremd wirken, so ist es doch eine Aufforderung für Frieden, Vergebung, das Gute und Wahrhafte einzutreten, um so Feindschaft durch Freundschaft zu ersetzen.
Jun.-Prof. Dr. Idris Nassery ist Juniorprofessor für für Islamische Rechtswissenschaften am Paderborner Institut für Islamische Theologie.
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