Wie Dinge uns finden

Im Sommer 2006 habe ich als 17-jähriger Schüler ein paar Wochen bei einem Freund in Aleppo in Syrien verbracht. Eines Nachmittags besuchte ich eine Moschee im alten Stadtteil. Nach dem Gebet sprach mich der Imam an, fragte nach meinem Weg und drückte mir zum Abschied einen Koran in die Hand als Geschenk. Dieser Koran war anders als die Ausgaben, die ich kannte: der Einband war schwarz, die Seiten auf Hochglanzpapier. Seitdem habe ich immer diesen Koran zum Rezitieren benutzt. Das glänzende Papier spiegelte manchmal das Licht, wenn ich ihn unter der Lampe gelesen hatte, was mich beim Lesen leicht störte.

Dieser Koran blieb trotzdem mein ständiger Begleiter, vor allem im Ramadan. Und über die Jahre meldete sich bei mir immer wieder ein stiller, nie ausgesprochener Gedanke: Es wäre ideal, wenn ich dieselbe Ausgabe auf normalem Papier hätte, damit es nicht glänzt. Und wäre er noch einen Ticken größer… Das war kein Bittgebet, oder ein ausdrücklicher Wunsch, aber ein gedanklicher Seitenkommentar, der sich immer wieder meldete und dann in den Alltag verschwand. Es war nie so bedeutsam, dass ich deswegen nach einer anderen Ausgabe gesucht hätte.

Auch in Deutschland blieb der Aleppo-Koran Teil meiner Bibliothek und meiner Rituale. Die Jahre vergingen, weltpolitisch veränderte sich vieles, unter anderem kamen 2015 viele Geflüchtete aus Syrien nach Europa. Mein Sohn spielte inzwischen Fußball in einer Jugendmannschaft. Dort lernte ich einen Jungen kennen, dessen Familie aus Syrien geflohen war. Ich nahm ihn an vielen Wochenenden zu Spielen und Turnieren mit. Irgendwann erwähnte er, dass seine Familie aus derselben Stadt komme, in der ich damals den Koran erhalten hatte.

Einige Wochen später, bei einem Heimspiel, kam sein Vater auf mich zu. Wir unterhielten uns kurz. Mein Arabisch war längst eingerostet, sein Deutsch noch stark vom Arabischen gefärbt, doch wir verstanden einander erstaunlich gut. Er überreichte mir eine Plastiktüte und sagte, es sei ein kleines Geschenk als Dank dafür, dass ich seinen Sohn zu den Spielen mitnahm. Ich bedankte mich, stellte die Tüte ins Auto und öffnete sie erst zu Hause.

Darin lag ein Koran.

Nicht irgendeiner.

Eine syrische Ausgabe, derselbe Schriftsatz wie mein Aleppo-Exemplar.

Einen Ticken größer.

Auf normalem Papier, das nicht glänzte.

Ich saß da und wusste nicht, worüber ich mehr staunen sollte: dass ein Gedanke, den ich nie ausgesprochen hatte, zu mir zurückkam, oder dass er den halben Kontinent brauchte, um mich zu finden. Zwölf Jahre lang hatte ich aus meinem „alten“ Exemplar rezitiert und diesen kleinen nörgelnden Gedanken mitgetragen. Und doch fand dieses Buch seinen Weg zu mir: aus Aleppo, über die schwere Fluchtroute einer Familie, quer durch Europa. Es fand mich mitten in Deutschland, am Rand eines Fußballplatzes, zu dem ich schließlich auch selbst kommen musste. Und wie der erste war auch der zweite ein Geschenk.

Wie fein sind die Wege unseres Lebens miteinander verwoben? War das Fügung, Zufall, Zeichen oder Erfüllung eines unausgesprochenen Wunsches? Es gibt Momente im Leben, in denen man einen kurzen Blick auf die verborgenen Linien hinter dem Sichtbaren erkennt und spürt, dass die Welt mehr Zusammenhänge trägt, als wir im Alltag vermuten.