Ein Blumenstrauß und die Frage nach der Weltbegegnung

Ende Oktober. Ich gehe in ein Blumengeschäft eines großen Gartencenters. In der Schnittblumenabteilung suche ich mir einen Strauß aus und gehe zur Floristin, die hinten an der Theke steht. Sie fragt, ob sie den Strauß einwickeln soll. An ihrer Aussprache erkenne ich, dass sie vermutlich einen relativ kurzen Migrationshintergrund hat. Rechts von ihr steht ihre Kollegin, die ich aufgrund ihres Ruhrgebiet-Akzents als Mitglied der Mehrheitsgesellschaft verorte. Sie schaut zu uns herüber und sagt: „Hier steht aber nichts vom 31.10. als Feiertag. Da musst du dich geirrt haben. Ich weiß auch nicht, woher du das hast.“
Ich drehe mich zu ihr um und frage: „Sprechen Sie gerade über den 31. Oktober als Feiertag?“ – „Ja“, sagt sie. Ich erkläre: „Das ist ganz einfach, in Nordrhein-Westfalen ist der 31. Oktober kein Feiertag, sondern der 1. November, Allerheiligen, ein katholischer Feiertag. In manchen Bundesländern, etwa in Niedersachsen, ist der 31. Oktober allerdings ein Feiertag. Er wurde nach 500 Jahren Reformation eingeführt.“ Ich erläutere ausführlich, wie die Feiertagsregelungen in den verschiedenen Bundesländern aussehen. Die Floristin sieht mich die ganze Zeit mit großen Augen an, nickt mehrfach und sagt zwischendurch nur: „Ja!“ Vermutlich speist sich ihr Staunen daraus, dass eine Muslimin mit Kopftuch über christliche Feiertage und ihre Regelungen besser informiert ist als sie, die Mitglied der Mehrheitsgesellschaft ist. Als die junge Floristin mir den Strauß reicht, verabschiede ich mich freundlich und gehe Richtung Kasse. Aus der Entfernung höre ich, wie die Dame zu der jungen Frau sagt: „Na, jetzt hast du’s verstanden, ne?“
Diese Szene zeigt, wie in alltäglicher Kommunikation Macht, Wissen und Religion miteinander verwoben sind. Die Floristin, die den Feiertag offenbar erwähnt hatte, wird von ihrer Kollegin belehrt. Und das, obwohl diese selbst kein gesichertes Wissen besitzt. Es ist eine Geste sozialer Überlegenheit, nicht des Verstehens. Was ihr fehlt, ist religiöses Wissen als eine Ressource für den Weltzugang. Religiöse Bildung bedeutet nicht, Feiertage korrekt zu benennen, sondern Deutungsräume zu eröffnen: zu verstehen, warum ein Datum wie der Reformationstag für das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft bedeutsam ist. Dazu gehört auch das Wissen, wie religiöse Feiertagsregelungen in Deutschland überhaupt entstehen im Spannungsfeld von staatlicher Gesetzgebung, kirchlicher Tradition und regionaler Geschichte.
Ohne diese Deutungsfähigkeit verflacht Welt zu einer Ansammlung von Fakten, Daten und Irrtümern, die man berichtigt, ohne sie wirklich zu verstehen. Religiöse Bildung zielt dagegen auf ein tieferes Begreifen: Sie befähigt dazu, historische, kulturelle und existenzielle Bezüge zu erkennen und dadurch Resonanz mit der Welt zu entwickeln.
.Hartmut Rosa beschreibt Bildung als Resonanzbeziehung zur Welt als eine Fähigkeit, sich ansprechen zu lassen und antworten zu können. Religiöse Bildung im öffentlichen Raum kann genau das fördern: Sie sensibilisiert für geschichtliche Tiefendimensionen, für die symbolische Bedeutung von Ritualen, Zeiten und Festen. Wo sie fehlt, verliert Welt ihre Vielstimmigkeit und Resonanz.
Die Szene im Blumengeschäft steht damit exemplarisch für eine Gesellschaft, in der religiöse Sprach- und Deutungskompetenz zunehmend verloren geht. Religiöse Bildung hätte hier nicht nur Wissen vermitteln, sondern Resonanz ermöglichen können. Sie hätte einen Raum eröffnen können, in dem unterschiedliche Perspektiven nicht als Konkurrenz erscheinen, sondern als Angebot zum Verstehen: Warum feiern manche Menschen den Reformationstag als Erinnerung an religiöse Erneuerung? Warum ist Allerheiligen für andere ein Tag des Gedenkens und der Hoffnung? Und warum ist es für wieder andere, etwa Muslim:innen, Jüd:innen oder konfessionslose Menschen dennoch bedeutsam, diese Traditionen zu kennen?
Gerade im Alltag entstehen solche Momente, in denen Religion oft ungeplant zu einem Prüfstein gesellschaftlicher Verständigung wird. Die Szene im Blumengeschäft zeigt, dass religiöse Unkenntnis nicht nur ein Mangel an Wissen ist, sondern ein Verlust an Orientierung. Wenn Religion als kulturelle Ressource nicht mehr verstanden wird, verliert man den Zugang zu den Geschichten, Bedeutungen und Symbolen, die eine Gesellschaft über Jahrhunderte geprägt haben.