Reflexion über eine Kulturleistung
In diesem Sommer jährte sich der Geburtstag von Thomas Mann zum 150. Mal. Dieses Jubiläum hat nicht nur mir Anlass gegeben, sich mit seinem Werk und seiner Person näher zu beschäftigen. In seinem Zauberberg bin ich dabei auf eine schöne Stelle gestoßen. Hier lässt Mann die von ihm entworfene Figur des italienischen Humanisten und Literaten Lodovico Settembrini die Überzeugung verkünden, dass ein schöner Schreibstil schöne Gedanken hervorbringe und auch zu einem schönen Handeln führe. Thomas Mann würdigt an dieser Stelle seines Zauberbergs die Verbindung von Denken und Handeln als eine zivilisatorische Kulturleistung, die sich im geschriebenen Wort verdichtet und eine humanistische Geisteshaltung begründet.
Dass Schreiben eine Kulturtechnik sei, wird derzeit gerne betont, vor allem in der Auseinandersetzung mit neuen KI-Tools. Lange Zeit bestand der eigentliche Schreibakt dabei aber ausschließlich im Schreiben mit der Hand. Schreiben als Kulturtechnik ist historisch gesehen also die meiste Zeit über eine gewesen, die per Hand vollzogen wurde.
Beim Schreiben mit der Hand, das rufen uns gerade heute wieder Studien ins Bewusstsein, werden zahlreiche Muskeln und Gelenke aktiviert, die in Einklang gebracht werden müssen. Das Schreiben mit der Hand ist anstrengend, das merkt man nicht nur an den Händen, sondern auch mental, denn der Schreibprozess erfordert vor allem eines: Konzentration.
Wenn man den Schreibakt somit als einen Prozess versteht, in dem Geist und Körper in Einklang gebracht werden, um daraus etwas zu (Er)schaffen, dann hat er natürlich auch in den Vorstellungswelten religiöser Literatur einen festen Platz. So wird im Koran das Schreibrohr (qalam) bei der Vermittlung des göttlichen Wissens an den Menschen hervorgehoben (Koran 96:4). Hier manifestiert sich im Schreibakt nichts Geringeres als die Weitergabe göttlichen Wissens an den Menschen. Im Neuen Testament bezeichnet Paulus im 2. Korintherbrief den Menschen als einen Brief, der jedoch nicht mit Tinte geschrieben ist, sondern mit dem Geist Gottes.
Die Vorstellung eines göttlichen Schreibakts entwirft auch der islamische Gelehrte Abu Hamid al-Ghazali (gest. 1111) in seinem Werk Die Wiederbelebung der Wissenschaften der Religion. Darin wird in einer Parabel davon berichtet, wie jemand angesichts eines mit Tinte beschriebenen Papiers nach dessen Urheber fragt. Die Tinte verweist auf das Schreibrohr, welches auf die Hand des Schreibers als Urheber hindeutet. Nach Befragung weiterer Stationen – des Willens, des Wissens, des Verstandes, des Herzens und schließlich des ‚göttlichen Schreibrohrs‘ – erkennt die Person, dass allein Gott der eigentliche Schreiber ist und damit Urheber allen Handelns und Seins.
Heute, wo das laute Wort immer mehr Raum für sich beansprucht, ist eine flammende Verteidigung des geschriebenen Wortes, wie man sie im Zauberberg finden kann, ein ästhetischer Genuss und eine geistige Erbauung. Für solche Textstellen sollte man Thomas Mann gerade heute wieder lesen und für sich entdecken.
Angesichts der Möglichkeiten, die der rasante Aufschwung von KI-Tools derzeit mit sich bringt, erscheint es vielleicht naiv, im eigenen Schreibakt eine Kulturleistung zu sehen. Wenn jedoch die Fähigkeit zu einer schönen Handschrift zu einer antiquierten Liebhaberei wird, kann dann nicht auch die heilsgeschichtliche Relevanz eines göttlichen Schreibrohrs zu einer nicht mehr zu entziffernden Hieroglyphe für spätere Generationen werden?

Dr. Stephan Kokew ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Koranwissenschaften am Paderborner Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.