Der Mittelpunkt der Welt ist Jerusalem, יְרוּשָׁלַיִם.[1]
Dies ist für Muslime der Fall, zumindest ist es für sie ein Mittelpunkt der Welt. In den ersten Jahrzehnten nach der Etablierung des Islam jedenfalls beten Muslime in Richtung dieser Heiligen Stadt alquds, القدس.
Für Juden ist Jerusalem ohne Frage der Mittelpunkt der Welt. Aber auch für Christen ist Jerusalem der Mittelpunkt der Welt.
Jesus selbst allerdings identifiziert den Tempel, und damit אֶרֶץ יִשְׂרָאֵל , das «Land», und damit auch «Israel», mit sich selbst (Joh 2,19), so dass es naheliegt, die «Erwählung des Volkes Israel» nicht auf einen Landstrich auf der Erdoberfläche zu beziehen, sondern auf eine Person. So dass das Heil, wenn es von «den Juden kommt» (Joh 4,22), schon rein sprachlich nicht gleichzeitig nur für «die Juden» gedacht sein kann.
Nimmt man die unterschiedlichen alttestamentlichen oder modernen Gesetzgebungen in den Blick, so ist es auch nicht ganz einfach, wie man Jüdisch-Sein definieren soll: Bezieht es sich auf eine biologische Rasse? Hier geraten die in der jüdischen Geschichte einander abwechselnden matrilinearen und patrilinearen Abstammungsvorstellungen leicht in einen Konflikt. Oder sind Juden auch diejenigen Nichtjuden, die den jüdischen Glauben durch die Beschneidung angenommen haben? Mit anderen Worten: Wer genau waren die Menschen, denen die Balfour Declaration im Jahr 1948 “in Palestine … a national home for the Jewish people“ zuweist?
Rasch merkt man, wie man in sprachliche Paradoxien gerät.
Auch was der Begriff eines «ausgewählten Volkes» besagt, ist nicht immer ganz klar. In der Torah steht davon nichts. Verschiedene ähnlich klingende Formulierungen im Tanakh oder der jüdischen Liturgie jedenfalls weisen in ihrer Rede von einer Besonderheit, עם סגלה, am segullah (geschätztes Volk), אֲשֶׁר בָּֽחַר בָּֽנּו, ascher bachar banu (der uns erwählt hat) eher auf eine Funktion: אור לגויים, or la-goyim (Jes 49,6) – ein Licht für die Völker!
Sicher ist, dass Gott «den Kindern Abrahams ein Volk» verheißen hat (Röm 11,2) – und zwar beiden Kindern, nicht nur Isaak (Gen 21,12), sondern auch Ismael (Gen 21,13). Und nicht die beiden Knaben streiten miteinander, sondern ihre Mütter … (Gen 16,4f.; 21,10).
Sogar Christen ist etwas verheißen: Das Reich Gottes. Erwachsene erlangen es unter bestimmten Bedingungen; die Bergpredigt zählt dazu Arme, Verfolgte und solche, die das und das tun. Auch Kindern sagt Jesus das Reich Gottes zu; ihnen aber einfach so – ganz ohne Grund (Mk 10,14).
II
Die Wunde der Welt heißt Jerusalem.
In Jerusalem, im Heilgen Land und in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens (der Eurozentrismus dieser Redewendung bewirkt bereits Verzerrungen) liegen alle miteinander im Streit.
Nicht in erster Linie – wie es die Medien den Menschen einflüstern – Juden und Muslime. Auch gegenüber Christen kommt es von staatlich-israelischer Seite immer wieder zu Schikanen.
In der Kirche Vom Heiligen Grab kommt es zu Schlägereien zwischen den Mönchen verschiedener christlicher Konfessionen. Wegen dieser Streitigkeiten werden die Schlüssel zur Grabeskirche nicht von ihnen verwahrt, sondern von zwei muslimischen Familien.
In Jerusalem, genauer: «nahe bei der Stadt» (Joh 19,20), ist Jesus Christus gekreuzigt worden. Die schon rein sprachlichen Komplikationen, in die das Sprechen von den Juden, von den Christen, von den Muslimen an diesem einen, «auserwählten» Ort führt, finden ihr Spiegelbild in der Paradoxie der sich schneidenden Vertikalen und Horizontalen des KreuzesJesu.
Und wenn im Verlauf dieser Kreuzigung «Wasser und Blut aus seiner Seite fließen» (Joh 19,33), stirbt er nicht nur für einige wenige «Auserwählte», sondern «pro multis», wie es die katholische Liturgie singt; für «die Vielen» also, die, nach semitischem Sprachverständnis, nicht durch eine Selektion (Juden schaudert bei diesem Begriff!) bestimmt sind, sondern durch das Umfassen aller.
III
Der Bezugspunkt der ganzen Welt liegt also in Jerusalem.
Kann es angesichts solcher semantischer Verwicklungen verwundern, dass Jerusalem bleibender Bezugspunkt bitterster Bedrohungen «bis ans Ende der Welt» bleiben muss?
Wenn Juden sich in und nach den Gaskammern des Holocaust (Ps 50,21 Vulgata!) nach Palästina (also nach Jerusalem) sehnen – denken sie dabei nur an einen geographischen Zufluchtsort, oder ringt hier eine tiefere Sehnsucht um Ausdruck?
Wenn bestimmte Gruppen der Hamas (also nicht die Ḥarakat al-Muqāwamah al-‘Islāmiyyah) jüdische Menschen (mit ganz verschiedenen Reisepässen) verschleppen – geht es dabei nur um die nakba und alquds, oder lassen solche Taten in tiefere Abgründe blicken?
Wenn israelische Soldaten arabische Menschen zu Zehntausenden töten, weil einige wenige unter ihnen eine wirkliche Bedrohung darstellen könnten – handelt es sich dabei um eine Militäroperation (ein interessanter Begriff, der auch in anderen Zusammenhängen der Gegenwart eine Rolle spielt) von Juden gegen Muslime? Werden nicht auch christliche Araber in gleicher Weise erschossen?
Und sterben dabei nicht auch Kinder? Die, die Jesus der Zugehörigkeit zum Reich Gottes versichert hatte? Arabische christliche und muslimische Kinder, die sterben müssen, weil andernfalls aus ihnen «palästinensische Terroristen» werden? So wie vor achtzig Jahren jüdische Kinder sterben mussten, weil sonst aus ihnen «jüdische Bolschewisten» geworden wären?
IV
Die Wunde der Welt heißt Jerusalem – der Mittelpunkt der Welt.
In Jerusalem zeigt sich die Welt, wie sie wirklich ist. Hier zeigen sich die Menschen, wie sie jederzeit und überall auf der Welt ihr wahres Gesicht aufdecken können: im ständigen Gefühl, bedroht zu sein, zerrissen von Angst, voller Hass, entwürdigt von ihrer eigenen Niedertracht. Eine unstillbare blutende Wunde.
In Jerusalem zeigt sich auch Jesus Christus, wie er wirklich ist. Immer wieder aufs Neue erschossen in den unschuldigen jüdischen, muslimischen und christlichen Kindern, lässt er sich töten «für die Vielen». In Jerusalem zeigt sich Jesus Christus, wie er wirklich ist. In Jerusalem nimmt Jesus Christus die Menge der unsagbaren Taten der Menschen überall auf der Welt auf sich selbst und öffnet seine Wunde, damit Blut und Wasser heraustreten.
Darum muss die Wunde immer bluten. Damit durch diese Wunde (Jes 53,5) die Welt «heil» – سلام, שָׁלוֹם – wird.
Weil Gott im Angesicht des Hasses Heil wirkt.
Weil er durch Wunden Wunder wirkt.
Darum muss die Wunde immer bluten.
[1] Vgl. die Skulptur יְרוּשָׁלַיִם מֶרְכַּז הָעוֹלָם (Jerusalem as the Center of the World) von David Breuer-Weil (2013).
PD Dr. Mathias Kissel ist Privatdozent am Evangelischen Institut der Universität Paderborn.