Gesellschaftlicher Transfer? Lasst euch einladen!

Was die Komparative Theologie von der Komparativen Theologie lernen kann

Eine Innenstadt voller Menschen, Plakate, Parolen, Trommelgruppen und Lieder: Ein schönes Bild! Meine Töchter haben mich überredet, sie zur großen Anti-AfD-Demo zu begleiten. Viele zehntausend Menschen sind gekommen, um dem Bundesparteitag der AfD ihr lautstarkes, teils fröhliches, teils wütendes Bekenntnis für Demokratie und Vielfalt entgegenzusetzen. Ein ermutigendes Signal – doch es gibt etwas am Gesamtbild der Demonstrierenden, das mich anfangs unterschwellig irritiert und (je genauer ich hinschaue) in wachsendem Maße verstört. Ich bin nicht sonderlich Demo-erfahren. Aber ich kenne die Straßen, durch die ich hier gerade laufe. Ich kenne die Essener Innenstadt und habe noch nie erlebt, dass ich hier, so weit mein Auge reicht, fast ausschließlich weiße, deutschstämmige „Ureinwohner*innen“ erblicke. Unter den vielen Hunderten von Menschen, die mein Blick flüchtig streift, scheinen sich fast ausnahmslos Nachkommen der einstigen deutschen Mehrheitsgesellschaft zu befinden. Die einzigen Menschen, denen man ihre familiäre Migrationsgeschichte auf den ersten Blick ansieht, sind die von der Stadt Essen bereitgestellten kleinen Grüppchen von Ordnerinnen und Helfern am Straßenrand. Mich beschleicht ein ebenso paradoxer wie gruseliger Gedanke: sollte die Vision der Rechtsradikalen von einem weitgehend „ausländerfreien“ Deutschland etwa ausgerechnet hier, wo engagiert für eine plurale und offene Gesellschaft demonstriert wird, Realität geworden sein?

Es mag an diesem Tag konkrete, situationsbezogene Gründe dafür gegeben haben, dass die postmigrantische Bevölkerung kaum vertreten war – sei es die Angst vor Übergriffen und Attacken von rechts, sei es das resignative Gefühl, dass es ja doch nichts bringt. Doch mir scheint, dass diese beunruhigende Momentaufnahme ein Symptom für etwas sehr viel Größeres ist. Eine Ende letzten Jahres veröffentlichte Studie des Forschungsinstitus Gesellschaftlicher Zusammenhalt mit dem Titel „Entkoppelte Lebenswelten“ kommt zu dem Schluss, dass große Teile der hiesigen Bevölkerung selten ihr eigenes Milieu verlassen. Besonders ausgeprägt, so die Autor*innen, sei diese „Tendenz zur Netzwerksegregation“ unter AfD- und Grünen-Wähler*innen sowie unter hochgebildeten und muslimischen Bevölkerungsgruppen.[1]

Die Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Auseinanderdriftens zeigen sich im Kleinen und im Großen, auf regionaler und auf internationaler Ebene. Während die traditionellen Demokratien mit wachsender Instabilität zu kämpfen haben, lässt sich auf der Mikroebene beobachten, wie mediale Diskurse unversöhnlicher werden und das Unverständnis für abweichende Positionen wächst, während in der Realwelt zugleich Fremdheitsgefühle, Isolation und Einsamkeit um sich greifen – einst Wesensmerkmale einer großstädtischen Lebensform, die aber zunehmend auch in Dörfern und Kleinstädten anzutreffen sind. Mit entsprechender Dringlichkeit suchen NGOs, Parteien, Bildungs- und Kultureinrichtungen nach Wegen, Menschen außerhalb der eigenen soziokulturellen Bubbles zu erreichen. Spricht man mit Engagierten aus Politik, Kultur oder Klimaschutz vertraulich über das Thema „Diversität“, dann landet das Gespräch häufig bei eine ganz ähnlichen Art von Selbstkritik: man erreiche leider nur ein bestimmtes Milieu; die eigene Klientel sei zu homogen, zu weiß, zu akademisch und bilde noch längst nicht die Vielfalt der Gesellschaft ab.

Während also vielerorts große Ratlosigkeit herrscht, wie mit der kulturellen Segregation unserer Gesellschaft umzugehen sei, hat die Komparative Theologie eine Antwort auf diese Frage gefunden. Ihr Appell: Gewährt den Andersgläubigen und Andersdenkenden Gastfreundschaft im eigenen Denken und lasst euch umgekehrt von ihnen einladen! Hört einander zu und lernt voneinander! Wie großartig diese Antwort ist und wie gut sie funktionieren kann, darf ich seit 2012 – dem Jahr, in dem ich die Komparative Theologie erstmalig kennenlernte – in den Projekten unserer interreligiösen Musikinitiative Trimum erleben.

In meinen Augen geht die Relevanz dieses Ansatzes weit über das Themenfeld der Religionen hinaus. Auch andere gesellschaftliche Akteur*innen könnten von der Komparativen Theologie lernen und profitieren, wenn sie sie denn kennen würden – was aber leider nur sehr selten der Fall ist. Doch warum eigentlich ist die Komparative Theologie außerhalb der (teils virtuellen, teils steinernen und gläsernen) Universitätsmauern derart unbekannt?

Seit ich, aus der freien Kulturszene kommend, ein Jahr lang vertretungsweise am CTSI zu Gast sein durfte, liegt einer der Gründe für mich auf der Hand: Die Komparative Theologie beherzigt ihre eigenen grundlegenden Erkenntnisse nicht. Dort, wo sie sich an ein fachfremdes oder nicht-akademisches Publikum wendet, geschieht dies allzu oft in frontalen Formaten, in einer einseitig vortragenden oder predigenden Form. Statt hinzuhören, Fragen zu stellen, sich ins Denken des jeweiligen Gegenübers einladen zu lassen, wird ein One-Way-Konzept von Wissensvermittlung praktiziert: Hier die Expert*innen, die etwas zu sagen haben, dort das Publikum oder die Gemeinde, die zwar adressiert und bespielt, aber nicht als Dialogpartner auf Augenhöhe einbezogen wird. Würde die Komparative Theologie ihren eigenen wunderbaren Ansatz ernst nehmen, dann wüsste sie, dass diese Art von Wissenstransfer in einer weithin säkularen und zugleich vielstimmigen Gesellschaft nicht funktionieren kann – schon gar nicht bei wertegeleiteten und normativ aufgeladenen Themen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn es sich hier bloß um irgendein Orchideenfach ohne außerdisziplinäre Relevanz handeln würde. Doch das Potential der Komparativen Theologie ist zu groß, ihre Haltung zu wichtig, um sie nicht für die restliche Gesellschaft fruchtbar zu machen.

Deshalb, liebe Komparative Theologinnen und Theologen: Verlasst hin und wieder eure akademische Komfortzone und praktiziert das, was ich in der Theorie von euch lernen durfte: Lasst euch ins Denken der Andersdenkenden einladen! Wagt euch aus der Deckung und setzt euch den Zumutungen und Unbequemlichkeiten internormativer Diskurse und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse aus! Investiert weniger Zeit in Fachartikel und mehr Zeit in die Welt da draußen. Die nämlich braucht euch, eure Haltung und eure Expertise!


[1]Siehe https://fgz-risc.de/presse/detailseite/entkoppelte-lebenswelten-erster-zusammenhaltsbericht-des-fgz-untersucht-die-zusammensetzung-sozialer-bekanntenkreise-in-deutschland

Fotos: Obadoba 2019, (c) Anja Schäfer, www.gipfeldialog.de