„Der Frieden vom anderen Ufer“

Religionen gelten auf der ganzen Welt als Wege der Weisheit. In vielen Formen begegnet sie uns auch allegorisch und in den meisten Traditionen ist sie weiblich. Ob Athene oder Sophia aus dem Philippus-Evangelium. Spannenderweise bildet auch der Buddhismus hier keine Ausnahme. Auch hier scheint die Weisheit weiblich zu sein. Ob sie es aber tatsächlich ist, wissen wir nicht. Sie weist zwar eindeutig weiblich Merkmale auf (siehe Bild), kommt aber vom anderen Ufer. Das vermittelt uns der Name jener Literatur, die sie uns vermittelt, die Prajñāpāramitā, die Weisheit (Skt. prajñā) vom anderen (Skt. pāra) Ufer (Skt. mitā). Doch was ist das für ein Ufer und was hat das mit der buddhistischen Praxis und vielleicht auch mit unserer heutigen Weltsituation zu tun?

Tatsächlich existiert auch eine Weisheit unseres Ufers. Sie besteht in der Fähigkeit synthetische und analytische Urteile auf der Grundlage sensualer Erfahrungen zu bilden und logisch zu begründen. Diese Form der Argumentation ist auch dem Buddhismus alles andere als fremd.[1] Er selbst beginnt historisch wahrscheinlich nicht mit der Figur des Buddha, von der wir kaum etwas wissen, sondern mit vielen verschiedenen Schulen, die sich bereits früh in stark ausschweifenden, philosophischen Streitigkeiten verfangen hatten. Diese gingen primär um die Frage, wie es sein kann, dass es kein Selbst gibt (Skt. anātman) und doch den Kreislauf der Widergeburt (Skt. saṃsāra). Was wird wiedergeboren, wenn es keine Seele gibt, die den Kreislauf durchläuft? Wie so viele logisch-metaphysische Streitigkeiten ließen sich diese Diskurse schlicht nicht lösen. Zwischen 100 v.Chr. und ca. 400 n.Chr. entstanden dann Textsammlungen, die eine Lösungsperspektive eröffneten, die zuvor nicht bekannt war.[2] Zentrales Thema der Texte ist die Natur eines Bodhisattva, eines Wesens auf dem Weg zum Erwachen. Doch wie findet man zum Erwachen? Wie begibt man sich auf den Weg, ein Buddha zu werden?

Am Anfang steht die Einsicht, dass alle auf sensorische Wahrnehmung basierende Erkenntnis keine wirkliche Erkenntnis ist. Wenn man sich auf dem Weg zum Erwachen befindet, heißt das also, dass man zunächst einsieht, dass man träumt. Alle auf der Traumstruktur basierende Erkenntnis wäre ebenfalls eine reine Verstärkung der Traumstruktur. Ein synthetisches Urteil in einem Traum weist auf keine Wirklichkeit außerhalb des Traumes. Alle aus der Traumstruktur gewonnen Muster helfen aber ebenfalls nicht weiter. Es würde einem Menschen gleichen, der sich an seinen eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen möchte. Hier kommt die Weisheit ins Spiel, die nicht Teil der Traumstruktur ist. Sie kommt von der anderen, nicht traumhaften Seite und erfüllt das Traumbewusstsein mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit, wie sie jenseits des Traumes ist. Doch wie öffnet man sich für die Weisheit des anderen Ufers?

An dieser Stelle kennen viele von uns sicherlich die Bilder von buddhistischen Mönchen, die Stunden und Tage auf Kissen in der Stille verbringen. Ein klassischer Zen-Sesshin dauert sieben Tage und umfasst ca. 12 Stunden stilles Sitzen am Tag. Der Grund für diesen harten Weg liegt in der oben beschriebenen Struktur. Wenn wir unsere sensualen Eindrücke reduzieren und unsere projektiven Bewusstseinsprozesse zurückfahren, dann entsteh in unserem Geist zunächst eine Leere. Diese bietet dann aber einen Raum, indem die Wirklichkeit jenseits unserer Projektionen zum ersten Mal eine Chance hat, sich zu zeigen. Einfacher gesagt: Die Weisheit vom diesseitigen Ufer muss das Bewusstsein verlassen, wenn die Weisheit vom anderen Ufer einziehen soll.

Wir verstehen aber noch besser, worum es geht, wenn wir die Ursache unseres Leidens aus buddhistischer Sicht begreifen. Wenn wir als Menschen leiden, dann oftmals daran, dass wir uns an unsere Bilder und Projektionen hängen. Wir erkennen sie nicht als projektive Vorstellungen, sondern halten sie für die Wirklichkeit selbst. Wird die Wirklichkeit dann unseren Vorstellungen nicht gerecht rebellieren wir. Dieses Rebellieren gegen die Wirklichkeit ist der zentrale Aspekt des buddhistischen Leidbegriffs.

Aber der Kern der buddhistischen Praxis geht noch etwas tiefer. Es stellt sich nämlich sehr schnell die Frage, ob wir überhaupt aus der Sicht unserer uneinsichtigen Weisheit etwas Inhaltliches über die Weisheit vom anderen Ufer sagen können. Was genau bringt sie uns bei, was wir gerade nicht aus den Kategorien unseres alltäglichen Bewusstseins lernen können? Die frühen buddhistischen Texte sprechen dies tatsächlich aus. Zumindest bzgl. der Praxis des Zen: Still zu sitzen und zu meditieren heißt, zu nicht-zweien (chin. 不二), was soviel heißt wie den Geist zu einen (Chin. 一 心).[3] Konkret lässt sich diese so beschriebene Wirklichkeit nur erfahren. Beschreiben kann man sie schlecht, weil alle Worte wieder Zweiheiten produzieren, die den geeinten Geist disruptiv zerlegen. Dennoch lässt sich eine weitere Gefühlsqualität aufführen, die mit der Erfahrung des Einen Geistes auftritt: Ein unerschütterlicher Friede, der keine Bedrohung kennt. Wenn es in meinem Geist kein anderes gibt, dann gibt es auch nichts Bedrohliches. Wenn ich selbst nicht-zwei mit allem bin, dann gibt es auch nichts, dass mich bedroht. Es fallen auch alle Ambitionen und aggressiven Weltbezüge weg. Der Gedanke, dass mein Land noch nicht groß genug ist, wird absurd und unmöglich zu verfolgen. Es ist genau diese Gefühlsqualität, die mit der Erfahrung des Einen-Geistes einhergeht. Wenn diese Qualität sich allerdings einstellt, wenn sich der Mensch, der sie erfährt, aller projektiven Bezüge entledigt hat, dann kann es sich nicht einfach um eine kulturell kontingente Erfahrung handeln. Die kontingenten Projektionsmuster wurden ja gerade abgelegt. Stimmt dies, dann müsste sich diese Erfahrung zumindest in ähnlicher Form in anderen geistlichen Bezügen finden lassen.

In der ersten Abschiedsrede des Johannesevangeliums versucht Jesus zusammenzufassen, was er als Person mit seinem Leben, seinem Sterben und seiner Auferstehung hinterlassen wird: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht, sei auch nicht furchtsam.“ (Joh 14,27) Was ist das für ein Frieden, den diese Welt nicht geben kann? Wenn er nicht von dieser Welt kommt, woher dann. Wenn wir den Tod und die Auferstehung Jesu betrachten, dann kann uns bewusstwerden, dass selbst der Tod uns nicht in dem berührt, was wir wirklich sind. Tatsächlich gibt es bei allen Turbulenzen keinen wirklichen Grund, sein Herz beunruhigen zu lassen. Doch wie soll dies gehen. Die Welt führt uns immer wieder in neue Bedrohlichkeiten. Der Tod ist eine allgegenwärtige Präsenz, die wir verdrängen, aber eigentlich, rein innerweltlich, nicht beherrschen können. Der Satz Jesu spricht somit aus einer anderen Perspektive. Jesus scheint so sehr eins zu sein mit dem Vater, dass es ihm schlicht bewusst ist, dass es nichts gibt, was ihn wirklich bedrohen könnte.

Ich möchte an dieser Stelle keinen simplen Vergleich ziehen. Dennoch konvergieren hier zwei Erfahrungen, die uns in dieser Zeit meines Erachtens unbedingt angehen. Können wir in einer Welt existieren, die nur noch unüberwindbare Polaritäten zu kennen scheint? Oder ist uns die Erfahrung des einen Geistes der Zen-Praxis ansatzweise zugänglich? Und wenn diese tatsächlich in einen unbedingten Frieden hinüberleitet, der wie nicht von dieser Welt ist, können wir als Christen an dieser Stelle etwas über die Erfahrung Jesu von einer buddhistischen Lebenspraxis lernen? Was kann es heißen, den Geist zu einen? Was könnte es heißen, mitten in den Disruptionen dieser Zeit, den Imperativ Jesu ernst zu nehmen: „Euer Herz beunruhige sich nicht.“ 


[1] Für eine beispielhafte Darlegung eines Begründungstheoretischen Zugangs im Buddhismus vgl. Paul, G. Zur Liste der begründungstheoretischen Schriften im neuentdeckten „Alten Verzeichnis buddhistischer Lehren“ des Nanatsu-Tempels. Hôrin: Vergleichende Studien zur japanischen Kultur 1, S. 87-104.

[2] Für eine genauere Datierung vgl. Conze, E. Perfect Wisdom: The Short Prajnaparamita Texts, Buddhist Publishing Group, 1993, i-iii.

[3] Vgl. hierzu RÖLLICKE, H.-J., Der Ursprungsgedanke des Chan-Buddhismus im China des 7. Jahrhunderts, in: RÖLLICKE, H.-J. (Hr.), Denken der Religion, München 2010, 231–247.