GLAUBEN ALS ENDLOSES FRAGEN

Wohin?

Die Antrittsvorlesung von Frau Prof. Claudia Bergmann, Herrn Dr. Hans-Christoph Goßmann und mir am 14. Juni 2024[1] möchte ich gern als «Sprungbrett» nehmen. Doch wohin?

Die Fragestellungen zum Motiv des Fragens in der Bibel, die Frau Prof. Claudia Bergmann aufgeworfen hat, möchte ich noch ein wenig weiterdenken auf das Motiv des Fragens hin, des Befragens Gottes, die Vergeblichkeit des Wartens auf eine Antwort, des selbst Infragegestelltseins als Motiv des Glaubens überhaupt. Das möchte ich aber nicht «freihändig» tun, sondern mit einem Blick in die Kirchengeschichte, die in diesen Fragen überraschende Orientierung, wenngleich keinen Halt (!), bietet.

Dass es sich dabei um subjektive Schlaglichter handelt, soll dabei nicht überraschen. Das Wesen des Fragens ist es ja gerade, wie Frau Prof. Claudia Bergmann anhand des Buches Jona eindrucksvoll erwiesen hat, dass es sich dabei um die Redeform zweier Individuen handelt – und nicht um die Aufdeckung «objektiver» Wahrheiten an eine anonyme Masse.

Heilige

Die «Heiligkeit der Heiligen» der Kirchengeschichte von ihren Anfängen bis heute liegt in ihrer Wehrlosigkeit gegenüber einem Glauben, der ihnen keine Sicherheit bietet, sondern sie existentiell entblößt und hinterfragt. Den christlichen Glauben präsentieren diese Menschen als eine Erfahrung tiefster Widersprüche, die die religiösen Kategorien ihrer Zeit aus den Angeln hebt und ein immer wieder neues theologisches Fragen, eine immer wieder neue «Justierung» theologischer Sprache provoziert.

Den Weg des Glaubens präsentieren diese («meine» Heiligen) nicht als Erleuchtung; sondern im Glauben überlassen sie sich einem Gott, dessen Handeln sich in den widersprüchlichsten Erfahrungen zeigt, indem es sich verbirgt, und das so immer neues Befragen, nie aber endgültiges Beantworten hervorruft. Auf diese Weise bilden diese Heiligen die communio sanctorum: Kirche ist der Raum solchen Fragens, und wo immer sich solches Fragen ereignet, ist Kirche.

Ausgangspunkt

Schon der Ausgangspunkt der Kirche ist die ratlose Frage: Wie kann Gottes Heil in einem verurteilten und getöteten jüdischen Menschen Gestalt gewinnen?

Auf diese Frage gibt das Judentum auf den ersten Blick keine Antwort – und doch ist es genau der Gott des Judentums, der in diesem Paradox sein Handeln entfaltet, ein Handeln, das, mit anderen Worten, auf einen verborgenen Gott verweist, der seinen Willen nicht «auf geradestem Weg» (Regina Ullmann) enthüllt, sondern der ganz und gar in eine verwirrende Welt der Zweideutigkeiten eintritt und in Widersprüchen wirkt.

Wenn die Bibel vom Heiligen Geist spricht, so spricht sie von einem, der die Gläubigen diesem Jesus Christus gleichwerden lässt, indem sie selbst bestimmte menschliche Erfahrungen durchleben – nicht nur ein einziges Mal, sondern immer wieder.

Anerkennung oder Antworten erwarten sie dafür keine. Paulus (ca. 5 – 64) ergießt geradezu seinen Sarkasmus über die, die etwas anderes sein wollen als der Abschaum der Welt (2Kor 4,8–11; 6,3–10).

Verletzlichkeit

Gegen die «logische Schlussfolgerung» des Arius (ca. 250 – 336), ein verletzlicher Gott könne nur ein «niedrigerer Gott», also gar kein Gott sein, hebt Athanasius (ca. 296 – 373) das Wunder gerade des Gottes hervor, der Mensch wird und sich verletzlich macht; das Wunder gerade des Gottes Jesus Christus, der sich mit fremdem Leid identifiziert, der sich selbst befragen lässt angesichts des Leidens.

Festhalten

Für die Kappadokischen Väter (4. Jh.) ist Gott gerade dann Gott, wenn wir ihn nicht verstehen, begreifen und festhalten können. Gott selbst ist Zeichen einer Zukunft, die unvorhersehbar ist.

Keine Erleuchtung ist denkbar, die dem Menschen die Schau Gottes eröffnen könnte: Moses, wenn er Gott begegnet, steige «immer höher» (Gregor von Nyssa, ca. 335 – 394); Gott ziehe sich immer wieder auf die andere Seite einer unüberbrückbaren Kluft zurück; die Seele werde nie in der Sicherheit einer platonischen Einheit Ruhe finden. Erst auf dem Gipfel des Berges wird Moses eine «nicht von Menschenhand gemachte Stiftshütte» vor Augen geführt: Christus. – Doch immer weiter drängt Moses; selbst die Begegnung mit Christus ist kein Haltepunkt! (De vita Moysis).

Selbst der Anflug einer statischen Beziehung zwischen Gott und dem Gläubigen wird unterlaufen. Das Alte Testament erklingt als Echo im Neuen: «Sie waren aber auf dem Wege hinauf nach Jerusalem, und Jesus ging ihnen voran; und sie entsetzten sich; die ihm aber nachfolgten, fürchteten sich …» (Mk 10,32).

Herz

Buch X der Confessiones liest sich als das leidenschaftlichste Zeugnis dessen, was es heißt, unterwegs und noch längst nicht am Ziel zu sein. Augustinus (354 – 430) beschreibt den Schmerz eines Lebens voller unbeantworteter Fragen, voller unerfüllter Wünsche, die Sehnsucht nach dem einen, dem Wunsch, der hinter allen Wünschen verborgen ist: «Du hast mich berührt, und nun brenne ich vor Sehnsucht nach Deinem Frieden.»

Der Gläubige ist vor sich selbst verborgen. Im Vorgriff auf Freud und im Angriff auf Pelagius (ca. 354 – 418) schreibt Augustinus über die Hilflosigkeit des menschlichen Herzens: Wie Rationalität eben nicht der wichtigste Faktor in der menschlichen Erfahrung, das menschliche Subjekt stattdessen gewaltigen Vektoren von Kräften ausgesetzt sei – der Vernunft quälend undurchsichtig. «Denkt ihr, Menschen, die Gott fürchten, hätten keine Gefühle?» (Enarrationes in Psalmos 76,14). «Der einzige Weg, in diesem Leben vollkommen zu sein, besteht darin, zu wissen, dass man in diesem Leben nicht vollkommen sein kann». (Enarrationes in Psalmos 38,6).

Unruhe

Ähnlich wie Augustinus ist Meister Eckhart (ca. 1260 – 1328) Mystiker, gerade indem er Dichter ist. Auch seine Mystik ist eine Mystik der Unruhe. Der Geist findet überhaupt keine Ruhe, sondern wartet und bereitet sich auf etwas vor, das noch kommen wird, aber noch verborgen ist. Nur die äußerste Wahrheit ist gut genug; doch Gott zieht sich Schritt für Schritt zurück, um die Sehnsucht des Suchenden am Leben zu erhalten.

Kreuz

In der 20. These seiner Heidelberger Disputation bringt Luther (1483 – 1546) es auf den Punkt: Gott offenbart sich im Gegenteil, gerade indem er sich darunter verbirgt. Jede Antwort auf die Frage nach Gott ist gleichzeitig eine Rede über seine Abwesenheit. Nur hier, an einem «Unort», der sämtliche Vorstellungenvon Gott infragestellt, kann Gott selbst Gott sein.

Das Fragen ist endlos – das verbindet Luther und Eckhart: Dort wo keine Zeichen, keine Erfahrung des Religiösen auszumachen sind, ist Gott zu «finden».

Die Kehrseite davon wirft ein Licht auf den Menschen: Nichts in menschlichem Handeln und Beweggründen kann eindeutig sein; wie kann ein Mensch jemals davon überzeugt sein, dass eine Handlung «gut» ist? Immer sieht sich der Mensch als hinterfragt.

Gegner

Auch unter seinen «Gegnern», in der Gegenreformation, findet Luther einen Verbündeten. Auch Johannes vom Kreuz (1542 – 1591) steht stets vor Augen, dass eine Spiritualität, die wähnt, Christus gefunden zu haben, in Wirklichkeit eine Flucht vor Christus ist.

Gefängnis

In der Haft, in äußerster Isolation, übersetzt Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945) die Zuspitzungen Luthers ins 20. Jahrhundert: Der Mensch lebt vor Gott gerade so, als gäbe es keinen Gott.

Leiden

Mit Dorothee Sölle (1929 – 2003) schließlich schließt sich der Kreis zum Neuen Testament: Keine Frömmigkeit ohne unbeantwortete Fragen; keine Spiritualität ohne Schmerz.

Aber von hier aus wagt sie einen waghalsigen Sprung: Akzeptanz von Leiden meint nicht Passivität dem Leiden gegenüber, meint nicht eine Tatenlosigkeit, die entmenschlicht und verhärtet. Leid und unbeantwortete Fragen zerreißen den Selbstschutz des Gläubigen: Das Herz wird gebrochen, um Platz für Mitgefühl zu machen.

Antwort ohne Antwort

Von Paulus von Tarsus über Augustin von Hippo zu Martin Luther; von Johannes vom Kreuz über Dietrich Bonhoeffer zu Dorothee Sölle – diese verschiedenen Fäden zu einem einzigen verwoben, in dem Fragen und Antworten, Infragegestelltsein und Aufgehobensein ineins fallen – das könnte bedeuten: Gott ist in unseren Fragen, in unserem Schmerz und unserem Protest!

Diese «wahllos ausgewählten» Heiligen stehen für eine Wolke von Zeugen (Hebr 12,1), die dem Hinterfragtwerden nicht ausgewichen sind und deren Berufung es war, das Hinterfragen weiterzutragen.

Obwohl sie selbst eigentlicher Ort solchen Fragens ist, hat Kirche die so Fragenden, die Hinterfragenden, die Verletzlichen – weil auch sich selbst Hinterfragenden – und die Mitfühlenden nicht immer mit besonderer Wärme willkommen geheißen.

Das ist keine Frage.


[1] https://videos.uni-paderborn.de/m/be773ec45e93adb76bc9ed4071553063269a6f52876400738595fb4b36d6792a9c4c92e42929a9364ee436bb617648873e57a81226826ab8e123444fa5c934b4