Angesichts der Kriege in der Ukraine, im Nahen Osten und an vielen anderen Orten werden vielerorts Friedensgebete gehalten. Der Friede wird dabei von Gott erbeten, mit anderen Worten: Friede wird als Gabe Gottes verstanden. Wird Friede christlicherseits somit als etwas verstanden, das ausschließlich auf Gott zurückgeht, sodass Menschen nichts dazu beitragen können?
Diese Frage ist mit Bezug auf biblische Aussagen wie in Psalm 34, 15 mit einem „Nein“ zu beantworten. Dieser Psalmvers hat folgenden Wortlaut: „Lass ab vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach!“ Er war der Losungstext für den 10. Januar dieses Jahres. Der zu dieser Losung ausgesuchte neutestamentliche Lehrtext lautet: „Lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander“ (Römer 14, 19). In diesen beiden Bibelversen begegnet nicht die Vorstellung von Frieden als einer Gabe Gottes, die nur erbeten werden kann, sondern vielmehr die eines Ziels, das Menschen erreichen sollen und können. Heißt dies, dass der Friede keine Gabe Gottes ist, die erbeten werden kann? Nein, Friede ist eine Gabe Gottes – eine Gabe freilich, die mit einer Aufgabe verbunden ist, der Aufgabe, sich für den Frieden einzusetzen, ihn zu suchen, ihm nachzujagen und dem nachzustreben, was ihm dient, um es mit den Worten dieses Losungstextes und dieses Lehrtextes zu sagen.
Wenn Friede keineswegs selbstverständlich ist, sondern Engagement seitens der Menschen erfordert, stellt sich die Frage, wie dieses Engagement konkret Gestalt annehmen kann. Im Neuen Testament ist die Antwort auf diese Frage die Forderung der Feindesliebe – zweifellos die schwerste Forderung an Jesu damalige Jünger*innen wie auch an alle später lebenden Menschen, die sich bemühen, ihr Leben in der Nachfolge Jesu zu gestalten.
Wie kann sie gelebt werden, die Feindesliebe? Als conditio sine qua non ist die Bereitschaft zur Vergebung zu nennen. Auch sie – die Bereitschaft, zu vergeben – hat im christlichen Glauben und seiner gelebten Praxis einen hohen Stellenwert – einen so hohen, dass sie im bedeutendsten christlichen Gebet, dem Vaterunser, ihren Ort hat: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“. Die Vergebung, um die mit diesen Worten gebeten wird, ist ebenso lebensnotwendig wie das tägliche Brot, um das Gott in der unmittelbar vorhergehenden Bitte gebeten wird. Und so sind diese beiden Bitten durch das Wort „und“ miteinander verbunden: „Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld“. Die Bitte im Vaterunser, in der um Vergebung gebeten wird, ist in aller nur möglichen Kürze formuliert: „Und vergib uns unsere Schuld“. Aber auf diese Bitte folgt ein Nachsatz. Allein dies ist bemerkenswert, denn diese Bitte ist die einzige im gesamten Vaterunser, die mit einem Nachsatz versehen ist. Dieser Nachsatz lautet: „wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“. Damit werden göttliches und menschliches Handeln zueinander in Beziehung gesetzt. Christ*innen, die letztlich immer auf die Vergebung durch Gott angewiesen sind, können ihn nicht aufrichtig um seine Vergebung bitten, wenn sie selber nicht bereit sind, ihren Nächsten zu vergeben, die ihnen gegenüber schuldig geworden sind. Dem entspricht die Aussage, die im Matthäusevangelium unmittelbar auf das Vaterunser folgt: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Mt 6,14f.).
Damit diese Erkenntnis jedoch nicht zu einer belanglosen theologischen Richtigkeit verkommt, sondern gelebt werden kann, gilt es wahr- und ernstzunehmen, wie schwer es ist, Menschen zu vergeben, unter denen man gelitten hat. Vergebung gehört zu den Begriffen, die nicht leichtfertig in den Mund genommen werden sollten. Denn er benennt eine der schwersten Herausforderungen, vor die Menschen gestellt werden können. Christoph Huppenbauer hat in seinem vor zehn Jahren erschienenen Buch ‚Vergebung – Zumutung des Glaubens. Herausforderung für kirchliches Handeln‘ (Rosengarten bei Hamburg: Steinmann Verlag 2014) herausgestellt, wie schwer es für Opfer von Gewalt ist, Vergebung zu praktizieren – und zugleich aufgezeigt, dass der Vergebung eine befreiende Kraft innewohnt, die den Teufelskreis von Vergeltung, von Rache durchbrechen kann. Die Möglichkeit der Vergebung ist etwas überaus Wertvolles; sie kann den Weg zu Versöhnung und Frieden ebnen.
Aber die Möglichkeit der Vergebung kann auch pervertiert werden, wenn von den Opfern von Gewalt, sei es direkt, sei es indirekt, eingefordert wird, sie müssten den Täter*innen, die ihnen Gewalt angetan haben, vergeben. Die am 25. Januar dieses Jahres der Öffentlichkeit präsentierte Aufarbeitungsstudie ForuM zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche und Diakonie und die anschließende Auseinandersetzung mit dieser Studie zeigen, dass eben dies geschehen ist, indem Opfer sexualisierter Gewalt unter moralischen Druck gesetzt worden sind, ihren Täter*innen zu vergeben. Die Forderung zu vergeben dürfen Menschen nie an andere stellen, sondern – wenn überhaupt – nur an sich selbst. Und auch dies ist kritisch zu hinterfragen, denn jemand sollte nur dann vergeben, wenn er bzw. sie dazu in der Lage ist, und nicht, weil er bzw. sie moralischen Maßstäben genügen möchte, die eine Überforderung darstellen können.
Bedeutet dies nun, dass Feindesliebe und Vergebung realitätsfern sind? Nein; es gibt zutiefst ermutigende Beispiele dafür, dass es gelingen kann, Feindesliebe und Vergebung nicht nur in der Theorie gutzuheißen, sondern in der Praxis eines Lebens, das durch erlebte und erlittene Gewalt zutiefst geprägt ist, zu leben. Ein Beispiel dafür ist der Parents Circle, ein Zusammenschluss von mehr als 500 israelischen und palästinensischen Familien, die durch den Konflikt zwischen ihren Völkern Kinder oder nahe Angehörige verloren haben und sich gemeinsam für Versöhnung, Dialog und Frieden einsetzen. Diese Initiative wurde bereits mit etlichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Dass israelische Eltern, deren Kind von Palästinensern getötet wurde, und palästinensische Eltern, deren Kind von Israelis getötet wurde, sich treffen, um sich gemeinsam für den Frieden zwischen ihren beiden Völkern einzusetzen, zeigt, dass Feindesliebe möglich ist.
Die christliche Feindesliebe kann also den Weg zu Frieden ebnen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sämtliche Christ*innen dies als den einzigen Weg zum Frieden ansehen und somit Pazifist*innen sind. Christ*innen bilden als Kirche einen Teil der Gesellschaft ab; gibt es unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Frage, wie Friede erreicht werden kann, in der Gesellschaft, so gibt es sie auch in der Kirche. Um auch dies anhand von konkreten Beispielen darzulegen: Der frühere Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes hatte im Jahr 1993 anlässlich des Krieges im ehemaligen Jugoslawien zum militärischen Eingreifen in Bosnien aufgerufen und sich dabei auf den Artikel 16 der Confessio Augustana (Augsburgisches Bekenntnis von 1530) berufen, in dem vom „bellum iustum“, vom „gerechten Krieg“, die Rede ist. Dies löste damals eine heftige Kontroverse innerhalb der Kirche aus. Diese Debatte erlebte in unseren Tagen gleichsam eine Neuauflage, als Annette Kurschus, die mittlerweile ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die Auffassung vertrat, dass Waffenlieferungen an die Ukraine mit christlichen Grundsätzen zu vereinbaren seien. In einem online veröffentlichten Interview des Nachrichtenmagazins ‚Spiegel‘ sagte sie: „Die Menschen in der Ukraine haben ein Recht auf Verteidigung. Und es gibt auch das christliche Gebot der Nothilfe, wenn Menschen ermordet, gefoltert, erniedrigt, vertrieben werden.“ In einer weiteren Äußerung hat sie die Waffenlieferungen ebenfalls direkt mit dem christlichen Glauben in Verbindung gebracht: „Waffen für die Ukraine sind Pflicht christlicher Nächstenliebe.“ Diesen Aussagen von Annette Kurschus wurde von anderen Christ*innen z.T. heftig widersprochen. Ich nenne nur zwei Beispiele: Margot Käßmann, ebenfalls ehemalige Ratsvorsitzende der EKD, spricht sich mit Vehemenz gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aus, da diese dem Frieden nicht dienen würden. Auch in der Stellungnahme ‚Christ*innen sagen Nein zu Waffenlieferungen und Aufrüstung‘ von einer Gruppe von Pfarrer*innen der württembergischen Landeskirche wird die Auffassung vertreten, dass eine militärische Unterstützung der Ukraine keine dauerhafte Friedensperspektive biete (vgl. Susanne Büttner, Zum andauernden Krieg in der Ukraine. Württembergischer Friedensaufruf zum Reformationstag an Kirche und Politik, in: Deutsches Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt 123, 11/2023, S. 700f.). Diese Vielfalt von Positionen gibt es in der Kirche; sie muss in der Kirche ausgehalten werden und sie kann auch ausgehalten werden.
PD Dr. Hans-Christoph Goßmann ist Privatdozent an der Universität Paderborn im Bereich Religionspädagogik/ Praktische Theologie am Evangelischen Institut.