Was ist eigentlich Ableismus?

„Bist du behindert?!“ schallt es über den Schulhof. Ich bin ehrlich, an der Universität habe ich es auch schon gehört. Das sagt man halt so. Doch was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn „behindert“ ein Schimpfwort ist? Behindert im Sinne der Beschimpfung ist etwas, das man auf keinen Fall sein will. Jemanden so zu nennen, soll verletzen und beschämen. „Behindert“ als Schimpfwort zu nutzen ist ableistisch. Ableismus – ein Begriff, der noch kaum bekannt ist, den aber alle kennen sollten; ein Begriff, der irritiert und oft Fragen aufwirft. Brauchen wir noch mehr Anglizismen, fragen die einen. Die anderen nuscheln, was man denn da noch sagen darf. Und wieder andere sind froh, dass dieser Begriff sie sprachfähig macht und sie damit behinderungsbezogene Ungleichserfahrungen benennen können.

Ableismus geht auf das englische „to be able“ (fähig sein) zurück und meint die Orientierung an einer nichtbehinderten Norm. Ähnlich wie andere -ismen ist Ableismus durchdrungen von Macht und Herrschaftsverhältnissen. Er orientiert sich an dem Ideal eines leistungsfähigen, autonomen, nichtbehinderten Subjekts und bewertet behinderte Menschen als weniger wert oder unfähig. Er wirkt sich aus in Klischees und Generalisierungen, wenn z.B. der Rollstuhl die erste Assoziation ist[1], obwohl die Gruppe der behinderten Menschen höchst heterogen ist. Behinderung kann sichtbar oder unsichtbar sein, ist in den wenigsten Fällen angeboren, sondern wird meist im Laufe des Lebens erworben. Die Aussicht, eines Tages dieser Gruppe anzugehören, die ca. 10% der Bevölkerung in Deutschland ausmacht, ist gar nicht so unwahrscheinlich. Und vielleicht ist genau dies der Grund für den ableistischen Abgrenzungsmechanismus und die krampfhaft konstruierte Binarität zwischen Behinderung und Nichtbehinderung (, die alltagssprachlich oft mit „Normalität“ verwechselt wird)?

Im Gegensatz zur „Behindertenfeindlichkeit“ kann sich Ableismus nicht nur in einer ab-, sondern auch aufwertenden Intention zeigen, z.B. verdeckt als gut gemeintes Kompliment: in der Bewunderung, wie held*innenhaft jemand trotz der Behinderung das Leben meistert, in unpassenden und ungefragten Hilfeleistungen oder in der Aussage „irgendwie sind wir doch alle behindert“. Ableismus zeigt sich in dem Reden über, aber nicht mit Behinderten, darin, dass Nichtbehinderung vorausgesetzt, Behinderung jedoch nicht mitgedacht wird und in der fehlenden (medialen) Repräsentation. Oder können Sie ohne Umschweife drei behinderte Menschen aus der Öffentlichkeit nennen?

Ableismus betrifft uns alle. Wir sind ableistisch sozialisiert, egal, ob wir mit oder ohne Behinderung leben, haben ableistische Denkmuster internalisiert und leben bzw. erfahren Ableismus auf zwischenmenschlicher, struktureller und ja, auch auf transzendentaler bzw. theologischer Ebene. Ableismus aufzudecken, zu benennen und zu verlernen, ist nicht zuletzt auch eine theologische Herausforderung, der es sich zu stellen gilt.[2] Wird Behinderung nicht nur als eine Heterogenitätsdimension wertschätzend und differenzsensibel betrachtet, sondern ebenso im Zusammenhang mit Ableismus und Ableismuskritik ernstgenommen, kann und wird dies in verschiedensten Bereichen selbstkritische Reflexions- und Transformationsprozesse anstoßen. Und vielleicht trägt das dann dazu bei, dass Menschen mit Behinderung nicht nur als Forschungsobjekte oder Adressat*innen barmherziger Nächstenliebe, sondern vielmehr als theologische Subjekte auftreten, auf die frei von Ableismus „behindert“ als ein Attribut neben vielen anderen zutrifft.[3]


[1] Das Bild des symbolischen „Rollifahrers“ ist häufig die erste Assoziation, die Menschen mit dem Thema Behinderung verknüpfen. Bewusst wurde es hier als Provokation gewählt, um eigene Behinderungsbilder zu hinterfragen.

[2] Als mögliche Startpunkte für die Entwicklung einer ableismuskritischen nennt Marie Hecke zwei theologische Inhaltsfelder, die häufig im Zusammenhang mit Behinderung stehen: 1. Die „Überwindung“ von Behinderung in eschatologischen Texten oder die Auslegung neutestamentlicher Heilungswunder als Normalisierungsgeschichten. Vgl. Hecke, Marie: Ableismuskritische Theologie, in: Glossar des Genderportals der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. https://gender.kiho-wuppertal.de/ableismuskritische-theologie/ , 03.03.2023.(Stand: 24.04.2024).

[3] Das 2023 gegründete Netzwerk Dis/Ability und Theologie bietet Wissenschaftler*innen, die an der Schnittstelle von Theologie und Disability Studies arbeiten, Vernetzungs- und Austauschmöglichkeiten. Aus den jeweiligen Theologien und ihren theologischen Disziplinen heraus zeigt sich die Perspektivenvielfalt auch in den individuellen Körpererfahrungen, d.h. als Ally oder als Forschende mit sichtbarer oder unsichtbarer Behinderung, egal ob diese benannt werden oder nicht. Wer Interesse an der Aufnahme in den Netzwerkverteiler hat, melde sich bitte bei Dr. Marie Hecke (marie.Hecke@kiho-wuppertal.de) oder Anna Neumann (anna.neumann@upb.de).