Yoga – eine areligiöse Lebensweise?

Yoga bedeutet Körper, Geist und Seele in Einklang zu bringen und in den Schriften des Yoga – wie dem Yoga Sûtra des Patañjali – liest man, dass das Ziel von Yoga die Erleuchtung ist (vgl. Desikachar 52011: 51-53; 101). Wie passt das mit den Aussagen von Yoga-Lehrenden zusammen, die ich immer wieder während meiner Ausbildungen zur Yogalehrerin gehört habe?: “Yoga ist eine Philosophie, eine Lebensweise, die alle Menschen praktizieren können – unabhängig ihrer Religion.” Stellt das nicht einen Widerspruch zum Ziel der Erleuchtung?

In seinem Ursprung ist die Yoga-Philosophie mit Religion verknüpft (vgl. Großmann & Rübesamen 2015). Im 6. Jahrhundert vor Christus stand Yoga mit religiösen Ritualen im Zusammenhang, deren Ziel das Erreichen von Erkenntnis oder auch Erleuchtung war (vgl. ebd.; vgl. Bucar 2022: 150). Dieser Gedanke des Yoga findet sich heute “vor allem in seiner säkularisierten Form als ‘Hingabe an eine höhere Macht’: Spiritualismus statt Religion” (Großmann & Rübesamen 2015) wieder. Genauer gesagt wurde die Vedanta Metaphysik in viele Praktiken aufgenommen, die wir heute Yoga nennen. Die Yogatraditionen haben also in dieser Weltanschauung ihren Ursprung. Und eben diese Weltanschauung der Vedanta kann als religiös verstanden werden, da in ihrem Zentrum ein heiliges Bewusstsein jenseits der menschlichen Erfahrung steht (vgl. Bucar 2022: 152). Somit sind Aussagen wie “connect with your energetic source” eigentlich vage Bezüge auf die Vedanta Metaphysik (vgl. ebd.). Auch K. Pattabhi Jois – der Begründer des Ashtanga Yoga – sagte, dass Yoga-Praktizierende Gott in sich erleben würden, ob sie wollen oder nicht (vgl. ebd.: 150).

T.K.V. Desikachar – Sohn von T. Krishnamacharya, der auch als “Vater des modernen Yoga” gilt – schreibt hingegen im Kommentar zum Yoga Sûtra des Patañjali, dass Yoga eindeutig nicht religiös sei. Zum einen grenzt er Yoga zum Hinduismus und der dazugehörigen Philosophie (Vedanta) ab, da das Yoga Sûtra zwar Wege für gläubige Menschen aufzeige, aber auch Alternativen anbiete. Zum anderen betont er die große Offenheit und somit Allgemeingültigkeit des Yoga Sûtra, weshalb es viele religiöse und spirituelle Strömungen inspiriert habe, aber nie selbst zu einer Grundlage für eine eigenständige Religion geworden sei. Auch wenn das Yoga Sûtra heutzutage in Indien häufig aus hinduistischer Sicht betrachtet wird, entspreche dies nicht der eigentlichen Intention (vgl. Desikachar 52011: 9).

Die Frage, ob Yoga generell religiös ist, ist somit nicht einfach zu beantworten. Aus diesem Grund unterscheidet Liz Bucar Devotional Yoga und Respite Yoga, wobei sie Devotional Yoga über gewisse Glaubensüberzeugungen wie Kosmologie und Metaphysik, die Einbeziehung von ethischen Leitlinien der Yamas und Niyamas und intensive Asanas, Pranayama-Techniken und Meditationsformen definiert. Dieser Art des Yoga schreibt sie eine eindeutige Religiosität zu (vgl. Bucar 2022: 147). Respite Yoga unterscheidet sich hiervon vor allem durch eine ausbleibende Notwendigkeit, gewissen Überzeugungen zu folgen. Der Fokus liegt eher auf der physischen Asana-Praxis, wobei trotzdem pseudo-liturgische Elemente – wie das “Namaste” zu Beginn und zum Abschluss einer Stunde – eingebracht werden. Respite Yoga sei somit die Aneignung (=appropriation) von Devotional Yoga (vgl. ebd.: 147-148). Trotz des Versuches, sich von Religion abzugrenzen, bedient sich Yoga (auch Respite Yoga) eindeutig religiös kodierter Sprache. Beispiele hierfür sind: “Erleuchtung”, “sich mit Energie verbinden”, “Brahman”, “Shiva”, “Krishna”, “das Göttliche” im Allgemeinen (vgl. ebd.: 168). Die gleichzeitige Betonung, dass Yoga nicht religiös sei, und die Menge an religiösen Inhalten können wie ein Widerspruch wirken (vgl. ebd.). Doch dies kann auf die Einbettung in einen neuen kulturellen Kontext zurückgeführt werden. Kurz gesagt haben Elemente wie Körperhaltungen, Atemarbeit und Meditation im USA-amerikanischen Raum Anklang gefunden; andere Aspekte jedoch nicht, die dann auch nicht mehr Teil der Vermarktung waren (vgl. ebd.: 174).

Heutiges Yoga lässt sich laut Liz Bucar auch wie folgt zusammenfassen: “the result of the interaction of multiple South Asian traditions, nationalism, imperialism, capitalism, and globalization” (ebd.: 150). Sie betont hierbei, dass es falsch sei zu sagen, dass Yoga hinduistisch ist, genauso sei es aber auch falsch zu sagen, dass Yoga nichts mit dem Hinduismus oder anderen östlichen religiösen Praktiken zu tun hat (vgl. ebd.).

Bucar folgert aus ihren Überlegungen, dass die indische Kultur, Philosophie und religiöse Praxis im modernen Respite Yoga nicht angeeignet werden, sondern es sich vielmehr um eine koloniale Vorstellung von diesen Dingen handelt (vgl. ebd.: 184). Kritische Aspekte sind beispielsweise die Vermarktung unter dem Gesichtspunkt der individuellen Gesundheit auf Kosten der Ausbeutung anderer (vgl. ebd.: 197) und die Verwendung von ursprünglich religiösen Elementen wie dem Sanskrit (vgl. ebd.: 164), was nicht zuletzt mit der politischen Konstruktion einer hinduistisch geprägten indischen nationalen Identität in Verbindung steht, die die Muslime des Landes ausschließt (vgl. ebd.: 185-186).

Yogalehrer:in zu sein bedeutet also, andere durch religiöse Aneignung zu führen (vgl. ebd.: 201) und die Aussage, dass es sich um eine areligiöse Lebenspraxis für alle handle, ist meiner Ansicht nach damit eindeutig zu kurz gedacht. Vor dem erläuterten Hintergrund erachte ich es als äußerst wichtig, meine Yogapraxis und den Unterricht, den ich gebe, zu reflektieren, indem ich mir beispielsweise die folgenden Fragen stelle, die Rina Deshpande vorschlägt:

  • “Do I really understand the history of the yoga practice I’m so freely allowed to practice today that was once ridiculed and prohibited by colonists in India?”
  • “As I continue to learn, am I comfortable with the practices and purchases I’m choosing to make, or should I make some changes?”
  • “Does the practice I live promote peace and integrity for all?”

(Deshpande 2019)

Quellen

Bucar, Liz (2022), “Respite Yoga”, in: Stealing My Religion. Not Just Any Cultural Appropriation, Cambridge (Massachusetts)/London: Harvard University Press, 145-202.

Deshpande, Rina, (2019), “What’s the Difference Between Cultural Appropriation and Cultural Appreciation?”, in: Yoga Journal, URL: www.yogajournal.com/yoga-101/yoga-cultural-appropriation-appreciation/ (26.11.2022).

Desikachar, T.K.V. (52011), Über Freiheit und Meditation. Das Yoga Sûtra des Patañjali. Eine Einführung, Petersberg: Via Nova.

Großmann, Katharina / Rübesamen, Kristin (2015), “Die Geschichte des Yoga”, in: Yoga Easy, URL: www.yogaeasy.de/artikel/Die-Geschichte-des-Yoga (01.11.2022).

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