Vor einiger Zeit saß ich im Zug einer elegant gekleideten älteren Dame gegenüber. Vertieft in Arbeit und grundsätzlich in Sorge davor, in ein Gespräch verwickelt zu werden, übte ich mich zunächst in höflicher Distanz. Einen Halt vor meinem Ausstieg aber klappte ich den Laptop zu und wir kamen unmittelbar ins Gespräch. Schnell zeigte sich, dass es kein Plausch über das Wetter werden würde: Mein Gegenüber war unterwegs zur Nachlassverwaltung ihres vor wenigen Tagen verstorbenen Bruders. Sie berichtete kurz von seinem Leben, von gemeinsamen Zeiten, auch vom Tod ihres Mannes vor einigen Jahren und vom bedrückenden Gefühl, die letzte dieser Generation in ihrer Familie zu sein.
Ich hatte den dringenden Wunsch, ihr etwas Gutes zu sagen, ihr gegenüber auszudrücken, dass weder ihr Bruder noch sie in ihren Sorgen vergessen ist. In der Öffentlichkeit des Zuges aber zu sagen „Ich bete für Sie“ fiel mir unendlich schwer. Woher kommt eigentlich dieser Zeugniskrampf? Warum ist es für viele so schwierig geworden, etwa in einem Segen oder Gebet zu bekennen, was wir glauben? Warum schämt man sich dafür, anderen öffentlich etwas Gutes zu wünschen?
Scham, so meinte der französische Philosoph Jean-Paul Sartre, ist die emotionale Erkenntnis, für andere ein Objekt zu sein. Wenn wir uns schämen, sehen wir uns aus den Augen der anderen und machen uns selbst über uns lustig oder urteilen über unser Handeln – oft bevor wir überhaupt gehandelt haben. Die Sorge davor also, dass andere sich über mich lustig machen könnten, hätte mich beinahe daran gehindert, mich jemandem in einer Lebenskrise zuzuwenden. Mir ist daran noch einmal deutlich geworden, wie zentral es für den Glauben ist, dass er öffentlich, gerade in den kleinen Momenten des Alltags, zur Sprache gebracht wird. Nicht um besonders fromm zu sein, sondern damit die Scham nicht gegen unseren guten Willen anderen gegenüber gewinnt. Was anderes aber ist ein Gebet für andere als Ausdruck unseres guten Willens? Was könnte selbst jemanden, der nicht an Gott glaubt, in einer existenziellen Krise daran stören, wenn man zu ihm sagt: ‚Ich denke an Dich, ich bete für Dich, ich will Dir Gutes!‘ – und wie unglaubwürdig wird der Glaube an einen guten Grund des Lebens, wenn man sich des Guten schämt.
Ich habe mich schlussendlich durchringen können, meinem Gegenüber zu sagen, dass ich für sie und ihren Bruder beten werde. Ich kann zumindest sagen, dass sie alles andere als empört war. Und dass sich schräg gegenüber jemand irritiert umgedreht hat, war mir offen gesagt beim Aussteigen ziemlich egal.
Prof. Dr. Aaron Langenfeld (*1985), Dr. theol. habil., ist Lehrstuhlinhaber für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät Paderborn.