Im Zentrum der Feiertage, die nun anstehen, steht eine Geschichte. Sie dürfte auch vielen noch in den Ohren klingen, die mit Kirche nichts oder nichts mehr am Hut haben. Ganz besonders gilt das für die berühmte Fassung der Lutherbibel: „Es begab sich aber zu der Zeit…“
Pünktlich zu Weihnachten beklagen Jahr für Jahr Theologinnen oder Kirchenvertreter, dass das Fest zur bloßen Folklore verkommen sei, dass Tannenbäume, Glühwein und Festessen nicht mehr viel mit der christlichen Botschaft zu tun haben. Ich will keine Gegenrede halten, bin aber skeptisch, ob die Diagnose zutrifft. Jedenfalls schimmert die Weihnachtserzählung vom Kind in der Krippe auch in manchem Lied noch durch, das über den Weihnachtsmarkt donnert. Und auch die Originale, Krippenspiel und Christmette, dürften, wenn auch bei sinkendem Trend, noch immer die meistbesuchten Gottesdienste im Jahr sein. Kein Vergleich jedenfalls zu Ostern oder Pfingsten.
Das wird viele Gründe haben. Die Geschichte, die erzählt wird, könnte einer davon sein. Sie kann auch dort noch berühren oder staunend gehört werden, wo sie nicht religiös gefeiert wird. Der Schriftsteller Chinua Achebe hat in seinem Essay The Truth of Fiction zwei Arten von Fiktionen unterschieden, die er als beneficent und malignant bezeichnet.[1] Letztere sind gewaltvolle Formen von Aberglauben, die wir etwa für die Fiktion nutzen, dass manche Menschen mehr wert seien als andere. Erstere lassen uns im besten Sinne die Welt neu sehen und etwas erfahren, indem wir uns mit den Figuren der Erzählung identifizieren und die Wirklichkeit durch ihre Augen wahrnehmen. Für manche, die weihnachtsbegeistert, aber nicht christlich gläubig sind, könnte die Weihnachtsgeschichte eine solche beneficent fiction sein. Wenn sie diese Funktion erfüllen kann, sollte man darüber nicht vorschnell klagen.
Ist Weihnachten also ‚nur‘ eine gute Story? Achebe erinnert zwar daran, dass auch eine solche einen nicht zu vernachlässigenden Wert haben kann. Von solcher Literatur gelte: „It does not enslave; it liberates the mind of man.“[2] Dass die Geschichte mit der Geschichte zu tun hat, wird gläubigen Menschen allerdings wichtig sein, auch wenn sie in der Erzählung des Lukasevangeliums die literarische Stilisierung erkennen. Auch die Liturgie der Weihnachtsnacht erinnert auf ihre Art daran. Das Martyrologium Romanum reiht die Geburt Jesu in eine Reihe konkreter Zeitangaben ein: 752 Jahre nach der Gründung Roms, im 42. Jahr der Regierungszeit des Augustus.[3] Zumindest die Botschaft ist klar: hier geschieht etwas Konkretes in Raum und Zeit.
Nicht nur hat die story mit history zu tun, sie ist auch nicht die einzige Form, von Weihnachten zu sprechen. Nach der Geschichte der Heiligen Nacht klingt die Sprache des Evangeliums vom Weihnachtsmorgen geradezu nach abstrakter Spekulation: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt…“
Weihnachten ohne diese Geschichte wäre nicht Weihnachten, auch wenn die Geschichte sofort nach einer Deutung verlangt. Der Glaube braucht diese Geschichten, er ist von ihnen überhaupt nicht strikt trennbar. Wie die Theologie mit ihnen umgehen, sie übersetzen und reflektieren soll, ist eine Frage, die hier exemplarisch auftaucht. Ganz grundsätzlich und nicht nur für die christliche Reflexion gilt, dass Sprache, die unterschiedlichen Genres, in denen wir uns verständigen, eng mit unserer Theologie verwoben ist. Wer ins neue Jahr mit Überlegungen zu diesem Thema starten möchte, hat hier die Gelegenheit dazu.
[1] Achebe, Chinua: The Truth of Fiction, in: Ders.: Hopes and Impediments. Selected Essays, New York 1989, 138-153, hier 143.
[2] Ebd., 153.
[3] Vgl. den Text online: https://www.theol.uni-freiburg.de/disciplinae/lmk/Intern/martyrologium-neue-fassung.pdf.
#Weihnachten #Story #Sprache #Weihnachtsgeschichte
Dr. Lukas Wiesenhütter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.