Es ist Mitte Dezember. Die Tage sind unfassbar kurz, die Nächte zu lang. Überall Weihnachtsmärkte, die die Vorfreude auf die kommenden Festtage ankündigen. Die Straßen und Märkte, auf denen ich gelegentlich laufe, leuchten im festlichen Glanz und trotzten so der Dunkelheit der langen Dezembernächte. Anders als in den letzten Jahren, fühlt sich für mich dieser Dezember anders an: Die Leuchten der Straßen scheinen weniger strahlend, die fröhliche Stimmung weniger greifbar. Es wirkt, als ob die Helligkeit den Glanz verloren hat, als ob Freude und Wärme nur noch flüchtige Schatten in diesen langen Dezembernächten sind.
Die Nachrichten und die Social-Media-Posts erzählen seit 66 Tagen ständig von aktuellen Geschehnissen im Nahen Osten. Es ist ein weiteres Kapitel in der traurigen Chronik menschlichen Versagens und es wirft seinen Schatten auf meine Wahrnehmung dieser vorweihnachtlichen Zeit, die ich als Muslim und „Außenseiter“ beobachte. In mir regt sich ein innerer Konflikt, eine bittersüße Melodie, die jedem schönen Erlebnis eine Note des Leids beifügt. Die Bilder der letzten 66 Tage vermischen sich in meinem Kopf mit den leuchtenden Weihnachtsmärkten. Es scheint, als würde die Welt versuchen, ihre Trauer hinter einer Fassade aus Lichtern und Liedern zu verbergen.
„Mehr als 7000 getötete Kinder“– eine schlichte, nüchterne Zeile in den Nachrichten, die doch eine unaussprechliche Tragödie birgt. Und mich lässt dabei ein Gedanke nicht los: wie viele hunderte kleine Träume, die nie Wirklichkeit werden, mögen wohl hinter diesem „mehr als“ verborgen sein? Träume, die es nicht mal geschafft haben in die Statistik des kurzen Nachrichtenberichtes als einzelne Zahlen aufgenommen zu werden. Die aufgerundete Zahl selbst ist so groß und so ungreifbar, dass es selbst die Hoffnung fern und unwirklich erscheinen lässt. Der Frieden, den wir uns alle erhoffen, scheint weiter entfernt denn je. Wir runden die Zahlen auf, sprechen von mehr als 17 000 Opfern, und vergessen dabei allzu leicht, dass hinter jeder dieser Zahl ein einzigartiges Leben stand, voller Träume und Möglichkeiten. Ich frage mich, wie wir inmitten dieser Dunkelheit noch Licht finden können. Die Realität erscheint manchmal zu hart, zu unbarmherzig und so, dass man gar nicht hinschauen möchte. Doch vielleicht liegt genau darin unsere Herausforderung: nicht wegzuschauen, sondern hinzuschauen. Die Geschichten hinter den Zahlen zu erkennen, einige Gesichter hinter den Statistiken zu sehen.
So habe ich durch das Hinschauen des Leidens dieser Menschen etwas Kraftvolles wiederentdeckt: ihre uneingeschränkte Hingabe und den tiefen Glauben an Gott. Selbst inmitten des unfassbaren Leidens und Verlustes ihrer Familienangehörigen und Kinder, wiederholen die Verunglückten: „zu Allāh gehören wir, zu Ihm kehren wir zurück.“ (Q 2:156) In dieser schlichten Ergebenheit liegt eine Stärke, die weit über das Verständnis des alltäglichen Lebens hinausgeht und größer ist als der tiefste Schmerz. In größter Not und in tiefster Trauer finde ich eine beeindruckende Kraft und Zuversicht, die auch mir einen Weg weisen: „und wer auf Allāh vertraut, für den ist Er sein Genüge“ (Q 65:3).
In dem Erkennen dieser Glaubenskraft – da beginne ich mein eigenes „Leid“ in einem anderen Licht zu sehen: jedes „Problem“, das ich zu haben glaubte, jede meine Sorge und mein ganzer Kummer schrumpfen und verlieren an Bedeutung in diesem neuen Kontext. Sie erscheinen nun so unbedeutend, überwindbar und klein, dass ich sie kaum noch ernst nehme. Im Lichte dieser unermesslichen Lebensgröße verblassen meine Sorgen, übertroffen von einer Kraft, die größer ist als die kleinen Stürme meines eigenen Daseins. Und dafür danke ich ihnen, und bete zu Gott für den Frieden.
#DezemberGedanken #Glaube #Leid #NahostKonflikt #Kontext
Ahmed Husić ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich der islamischen systematischen Theologie am Paderborner Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.