Heute nahm ich mir vor, diesen Blog-Beitrag am Abend bei einer Tasse Kaffee zu schreiben. Während die Stunden verstrichen und ich in meinen alltäglichen Aufgaben versunken war, erfüllte mich der Gedanke an diese abendliche Ruhepause mit Freude. Weniger das Schreiben als vielmehr der Kaffee, denn in letzter Zeit habe ich reichlich geschrieben. Mehrfach malte ich mir aus, wie angenehm es sein würde – den Kaffee meine ich, nicht das Schreiben.
Das nahezu rituelle Element des Kaffeetrinkens lässt mich heute nicht los. Zu Hause habe ich meine besondere Lieblingstasse, und ich weiß genau, wie jedes Detail vorbereitet sein muss, um den Kaffee wirklich genießen zu können. Ebenso sorgfältig bereite ich mich auf das Gebet vor; beide Elemente meiner Morgenroutine bieten mir Trost und ein Gefühl der Kontinuität.
Am liebsten mag ich MEINEN Kaffee, obwohl ich weiß, dass es unzählige Kaffeesorten gibt. Auch wenn jemand anderes meinen Kaffee zubereitet, ist es einfach nicht dasselbe. Ähnlich verhält es sich mit meinem Glauben: So wie es unendliche Kaffeevarianten gibt – Espresso, Latte, Americano, Macchiato –, so gibt es auch zahlreiche Wege und Zugänge zum Göttlichen, jeder mit seinem eigenen „Beigeschmack“ in Form von Philosophie oder Ritualgestaltung. Manche wirken wie ein kräftiger, Augen öffnender Espresso, andere eher wie ein tröstender Latte.
Eines kann noch in diesem Vergleich gesagt werden, zumindest im Hinblick auf die drei monotheistischen Religionen: jeder Kaffee beginnt als eine einzelne Bohne, aber die unterschiedlichen Zubereitungsmethoden führen zu einer Vielzahl von Ergebnissen. Ähnlich verhält es sich mit unseren spirituellen Wegen: Alle haben einen gemeinsamen Ursprung, werden jedoch durch individuelle Praktiken und Traditionen „gewürzt“ und verfeinert.
Mein Kaffee ist koffeinhaltig, und mir ist klar, dass das Koffein die „Seele“ des Kaffees ist. Es gibt jedoch auch Menschen, die entkoffeinierten Kaffee bevorzugen. Ähnliche Gegensätze lassen sich in religiösen Diskursen finden: Es gibt Gelehrte (und Gläubige), die auf einer wörtlichen Auslegung der heiligen Texte beharren und diese als „Seele“ der Religion bezeichnen – ähnlich wie diejenigen, die nur koffeinhaltigen Kaffee schätzen. Doch innerhalb jeder religiösen Gemeinschaft gibt es auch Menschen, die die Religion „entkoffeinieren“, indem sie freiere Interpretation der Texte vorziehen und somit die Substanz jenseits des Koffeingehalts zu schätzen wissen.
Also bietet sich beim nächsten Schluck des Lieblingskaffees an, einen Moment innezuhalten und über die eigene spirituelle Reise zu sinnieren. Vielleicht wird dabei klar, dass der Latte mehr ist als nur ein Kaffeegetränk – er wird zu einer dampfenden Tasse existenzieller Fragen. Die Vielfalt der Kaffeevarianten reflektiert dabei die Diversität religiöser Überzeugungen und Praktiken, und das ist völlig in Ordnung. Beim Genuss des Lieblingsaufgusses könnte man also überlegen, einen metaphorischen Schluck spiritueller Erleuchtung zu nehmen. Denn letztendlich geht es sowohl beim Kaffee als auch bei der Religion darum, die perfekte Mischung für sich selbst zu finden. Prost!
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Ahmed Husić ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem Paderborner Institut für Islamische Theologie der Universität Paderborn.