Der Begriff „Apokalypse“ ist gerade in aller Munde. Klimaschutz, Kriege wie der in der Ukraine, Verbrenner vs. Elektroautos, Erdbeben, Chemieunfälle, Überschwemmungen – alle diese Themen werden in den Medien und auch im modernen Sprachgebrauch als „apokalyptisch“ bezeichnet. Und auch meine nicht wissenschaftliche und stichprobenhafte Suche bei der Online-Ausgabe des Spiegel ergab ein ähnliches Bild. Während der Spiegel in den letzten Jahrzehnten das Wort „Apokalypse“ durchschnittlich 20-22 pro Jahr nutzte, erschien das Substantiv schon 105 Mal im letzten Jahr. Das Adjektiv „apokalyptisch“ wurde in der Vergangenheit durchschnittlich 5-6 Mal pro Jahr beim Spiegel benutzt, im letzten Jahr jedoch 16 Mal.
Zufällig begegnete mir ein Ausdruck mittelalterlichen apokalyptischen Denkens im Sommerurlaub in Rouen in der Normandie. Die dortige Kathedrale stehe auf dem Haus des Römers Praecordius, heißt es, der es für die ersten Gottesdienste der Christen zur Verfügung stellte. Im vierten und fünften Jahrhundert wurde dort ein Vorgängerbau errichtet, von dem man einige wenige Spuren gefunden hat. Die romanische Kathedrale wurde dann in Anwesenheit von William the Conqueror im Jahr 1063 geweiht, die heutige Kathedrale am Anfang des 13. Jahrhunderts im gotischen Stil neu errichtet. An einem ihrer Portale, dem „Portail des Libraires“ aus dem späten 13. Jahrhundert, sieht man mittig oben am Tympanum eine wahrhaft apokalyptische Szene: das letzte Gericht, Gräber öffnen sich, Tote werden quicklebendig. An den Seitenstreben des Portals schweift der Blick zu kleineren Darstellungen. Oben findet man hin und wieder Szenen, die dem Genesisbuch zugeordnet werden können, wie eine Darstellung von Adam und Eva, die von Gott Kleidung und Arbeitsgeräte gereicht bekommen. Weiter unten und direkt auf Blickhöhe aber tummeln sich Mischwesen und Phantasietiere wie ein Ziegenbock, der mit Menschenhand eine Glocke läutet, oder ein Schwein, das ein Streichinstrument spielt. Kunstvoll in die Steine einer gotischen Kathedrale gehauen, konservieren diese Bilder die apokalyptische Vorstellungskraft der Handwerker, die im Mittelalter hier tätig waren.
Das Mittelalter scheint eine Zeit gewesen zu sein, in der apokalyptische Ideen in großer Mode waren. Nicht nur steinerne Zeugen wie die Kathedrale von Rouen beweisen das, sondern auch schriftliche Zeugnisse aus jüdischer und christlicher Tradition, die bis heute erhalten sind. Dort liest man von Visionen eines gemeinsamen Mahles mit Gott oder einer Wiedereröffnung des Paradieses oder einem Gericht, das Gerechte und Ungerechte voneinander trennt und nur Erstere überleben lässt. Historische Dokumente sprechen von apokalyptischen Predigern, die das Ende der Welt voraussagten, von ekstatisch tanzenden Menschengruppen, die durch Mitteleuropa zogen, von Messiassen, die vor den Toren Roms um Anhänger buhlten.
Um der „Apokalyptik“ auf den Grund zu gehen, muss man aber noch weiter zurückschauen. Namensgeberin für den Begriff ist das letzte Buch des Neuen Testaments, die Offenbarung des Johannes, entstanden wahrscheinlich am Ende des ersten Jahrhunderts unserer Zeit. Offenbaren, griechisch apokalypto, bedeutet: „das Verborgene sichtbar machen“. In der Offenbarung will der Seher Johannes das ihm offenbarte Wissen an die christlichen Gemeinden weitergeben. Damals verfolgte der römische Staat die frühen Christen, sodass diese fürchteten, ihre Gemeinde und ihre Welt würde verschwinden. Und auch die jüdischen Gemeinden hatten in diesen Jahrhunderten und davor ähnliche Katastrophen erlebt. Im Jahr 70 unserer Zeit zerstörten die Römer ihr zentrales Heiligtum, den Tempel von Jerusalem. Vorher erlebten Jüdinnen und Juden Exil und Diaspora. Offenbartes (apokalyptisches) Gedankengut, die dramatische Sprache des Kampfes zwischen Gut und Böse, versprach den Unterdrückten und Bedrohten damals Abhilfe. Gott würde am Ende siegen, so die Hoffnung im frühen Judentum und frühen Christentum, Und mehr noch: Gott hatte den Konflikt schon vorausgesehen und lenkt die Geschichte, glaubte man. Wenn diese Welt, die nicht mehr zu verbessern ist, endet, beginnt eine neue: die Kommende Welt, wie man in der jüdischen Tradition sagte, das Reich Gottes, wie es das Neue Testament nennt.
Und das ist der große Unterschied zwischen den Ursprüngen apokalyptischen Denkens und dem inflationären Gebrauch des Begriffes im heutigen Sprachgebrauch. Heute steht „Apokalyptik“ allein für das Ende der Welt, früher aber stand es für das Ende der Welt, das dem Neuanfang mit Gott vorausgeht.
Einer frommen Legende nach wurde Martin Luther einmal gefragt, was er denn vom Weltuntergang halte. Er habe geantwortet: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Selbst wenn diese schöne Legende nicht historisch verortbar ist, zeigt sie uns einen einen Menschen des 16. Jahrhunderts, der dachte wie die frühen Apokalyptiker. Das Ende mag vielleicht kommen, aber niemand weiß, wann das geschehen wird. Und der Neuanfang ist schon von Gott geplant.
Allerdings kann man mit dieser frühen und eigentlichen Bedeutung des Begriffs „Apokalyptik“ heute keine Klicks in den Online-Ausgaben der Zeitungen generieren…
- Bild: privat
Claudia D. Bergmann ist Professurvertreterin für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Biblische Exegese und Theologie an der Universität Paderborn.
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