Seit ich vor zweieinhalb Jahren den Schritt gewagt habe von Paderborn nach Berlin zu ziehen, kann ich zufrieden feststellen, mich in sozialen Räumen aufzuhalten, die den Charakter eines Safer Spaces annehmen können. Ich umgebe mich mit Menschen, mit denen ich Erfahrungen und eine milieubedingte Sprache teile. Wir setzen uns sensibel und meistens selbstkritisch mit Themen wie Rassismus, Sexismus, queeren Kämpfen und Klimawandel auseinander, hinterfragen und kritisieren Gendernormen mit einem unübersehbaren Gendersternchen, kämpfen für die Normalisierung von Mental Health-Themen und streben eine befreite Sicht auf Sexualität an. Gepierct und tätowiert, mit einer Heirat höchstens aus steuerlichen Gründen im Hinterkopf, streben wir nach Jobs in Teilzeit, tragen stolz Secondhand-Kleidung und füllen unseren Insta-Feed mit inszenierten Fotos des letzten Urlaubs, die ja so viel mehr sind als Schnappschüsse. Klassenordnungen? Diese enthüllen sich uns wohl am deutlichsten, wenn wir vor der überteuerten Vielfalt an Tickets der Deutschen Bahn stehen. Und während wir unsere Tattoos in veganen Secondhand-Cafés sitzend zur Schau tragen, fragen wir uns manchmal mit einem Augenzwinkern, ob wir die Avantgarde der Individualität oder einfach nur Fans von nachhaltigem Koffein-Konsum sind. Inmitten dieser ironischen Verflechtung aus hedonistischem Lebensstil, kritischer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und beruflichen Perspektiven wird mir zunehmend bewusst, dass mein Arbeitsverhältnis als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der katholischen Religionspädagogik nicht mehr nur eine alltägliche Verantwortung darstellt, sondern zunehmend zum Katalysator für tiefgreifende Diskussionen über Vorurteile und Annahmen in meiner so geliebten ‚woken‘[1] Bubble wird.
Nicht erst seit meinem Umzug nach Berlin stelle ich fest, dass mein Arbeitsverhältnis bei vielen meiner woken Peers zu hochgezogenen Augenbrauen führt: „Moment mal? Du? Katholisch? Ich hätte erwartet, dass du in deinem Rucksack einen Haufen feministischer Theorie herumträgst und nicht die Bibel.“ Als wäre ihnen der Messias selbst erschienen, schaut manch eine*r fast panisch, wenn er*sie bemerkt, dass sich eine katholische Himmelsdetektivin in den eigenen Reihen befindet. In diesen erstaunten Gesichtern scheinen meistens nicht bloße Neugierde und Interesse auf, sondern Vorurteile und Ablehnung. Ich frage mich zunehmend, wieso ich nicht beides in meinen Rucksack werfen kann. Aber Schwarzsein, Jungsein, Frausein, Wokesein – all das scheint wohl nicht so recht in das verstaubte Klischee einer Katholikin zu passen. In diesen Erfahrungen spiegelt sich zum einen ein verzerrtes Bild von Theologie und zum anderen eine gesellschaftliche Realität wider, denn Religiosität, und in verstärkter Weise Katholizität, wird gerne mit dem Gegenteil von Vernunft und mit Konservatismus gleichgesetzt, als ob der konservative Flügel der Herren in den Klerikerreihen nicht schon genug im Rampenlicht steht.
Im Rahmen meiner Auseinandersetzung mit machtkritischer Forschung wird mir zunehmend bewusst, dass diese vorherrschenden Bilder von Katholischsein in enger Verknüpfung mit von Macht durchdrungenen Selbst- und Fremdrepräsentationen im Diskurs stehen. Innerhalb der durch den Diskurs gesetzten Rahmenbedingungen wird deutlich, dass auch in den institutionellen katholischen Hierarchien konservative Ausrichtungen eine spürbare Machtposition innehaben, wodurch sie das Narrativ eines konservativen Katholizismus in signifikanter Weise mitgestalten. Dieses Machtgefüge wirkt gleichzeitig als Motor für die Marginalisierung abweichender katholischer Identitäten, was zu einem vermeintlich einheitlichen und konservativen Bild des Katholizismus führt. Hier wird die immense Wirkmacht des Diskurses deutlich, der nicht nur passiv widerspiegelt, sondern aktiv Realitäten konstruiert und formt. Dieser komplexe Zusammenhang ist es, der die erstaunten Reaktionen meiner Peer-Group hervorruft. Angesichts dieser vielschichtigen Dynamik drängt sich die Frage auf: Welche Darstellungen des Katholizismus dominieren in diesem Szenario, und welche Perspektiven sind marginalisiert? Eine Suche nach Repräsentationen von jungen, nicht-weißen, queeren und behinderten Personen, die sich als katholisch verstehen, sowie nach ‚woken‘ katholischen Weltzugängen, würde sich meines Erachtens nicht nur zugunsten des christlichen ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘ lohnen, sondern könnte dem Katholizismus auch eine Prise neuer Würze verleihen. Oder ist die Suche zwecklos, weil die Woken ihre Kirchenmitgliedschaften bereits abgegeben haben wie die Vorstellung von einer binären Geschlechterordnung?
Eine nicht zu vernachlässigende Perspektive in diesem Kontext ist, dass sich gerade für uns weniger repräsentierten Katholik*innen das Bekenntnis zum Katholischsein als besonders herausfordernd gestaltet. Der Konflikt zwischen Aufrechterhaltung unserer Identität und den ausgrenzenden Praktiken der kirchlichen Institution, stellt uns vor die große Herausforderung, innerhalb der katholischen Gemeinschaft überhaupt unseren Platz zu finden. Dieser Platz will dann noch vor der eigenen kritischen Selbstbetrachtung und vor den hochgezogenen Augenbrauen gerechtfertigt werden. Und meistens fühlt sich das für mich so an, als ob ich zwischen woken Vibes und Weihrauchdüften stecke und versuche, im Dunst aus emanzipatorischer Energie und Heiligkeit den Ausgang aus diesem interkulturellen Labyrinth zu finden.
Glücklicherweise haben sich bisher alle Personen, dessen hochgezogene Augenbrauen ich bestaunen durfte, schnell davon überzeugen lassen, dass mein Katholischsein kein Hindernis für eine Freundschaft oder auch einfach ein nettes Gespräch sein muss. Den Titel eines ‚positiven katholischen Einzelfalls‘ in meiner Bubble mit Stolz zu tragen? Da muss ich passen. Und apropos Christ*insein ohne christliche Gemeinschaft – wäre das nicht sowas wie Selfie ohne Filter? In meiner Bubble hingegen erlebe ich eine andere Form der Verbundenheit: ein Netz aus Solidarität und gemeinsamem Engagement für Gleichberechtigung in Kombination mit einem gemeinschaftlichen Ausbrechen aus Arbeitsstress und Verpflichtungen. In dieser Dynamik, die zwischen progressiven Kämpfen und wohldosierten hedonistischen Fluchten hin und her schwankt, wird für mich eine Art Spiritualität erfahrbar, die wie ein modernes Spiegelbild traditioneller Weisheiten wirkt. Diese Spiritualität offenbart sich mir nicht mehr nur in traditionellen Ritualen, sondern auch in unseren Kämpfen, unserer Empathie und unserem Streben nach einem gerechteren Miteinander.
Während ich zwischen woken Vibes und Weihrauchdüften jongliere, fühlt sich meine Suche nach einer interkulturellen Identität an wie eine unendliche Debatte über Gendersternchen. Bin ich jetzt Undercover-Katholikin der Woke-Revolution oder eine fromme Wokeologin? Vielleicht brauche ich einfach einen Regenbogen-Rosenkranz.
[1] „Woke“ bedeutet im Englischen so viel wie „aufgeweckt“, „wachsam“. Im öffentlichen Diskurs wird er oft verwendet, um Personen innerhalb dieses bestimmten sozialen Milieus zu kritisieren, die durch Moralismus, unreflektierte Privilegien und distanziertes Eigenlob auffallen. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass ich die hier beschriebene Gruppe nicht im Sinne einer selbstbezogenen und moralisierenden Haltung als „woke“ verstehe. Vielmehr wird der Begriff ironisch als Selbstbezeichnung verwendet, die eine gewisse Haltung der Wachheit und Bewusstheit für gesellschaftliche Ungleichheit verkörpert, die sicherlich aber auch mit blinden Flecken einhergeht.
Hannah Drath ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.
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