Erdbeben in Syrien und der Türkei, Massenproteste und Hinrichtung von Demonstrierenden im Iran, Krieg in der Ukraine, Inflation, Hungerkrise in Ostafrika, Pandemien, Missbrauchsfälle und der Umgang damit in den Kirchen, Fluchtbewegungen, Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit, Pandemien, der wachsende Nationalismus in Europa, strukturelle Diskriminierung …
Diese Reihe von Tragödien, Katastrophen und krisenartigen Zuständen könnte ich beliebig fortführen und mit meinen ganz persönlichen Krisen im Privat- und Arbeitsleben ergänzen. Auf dem Sperrbildschirm meines Smartphones erreichen mich über Pushnachrichten die Bilder brennender Wälder, zerbombter Häuser, hungernder Menschen, Razzien und Menschen auf der Flucht. Bestätigt wird dieses Bild davon, dass ich seit einiger Zeit überall lese, dass wir in Krisenzeiten leben: „Von einer Krise in die Nächste“, „Fastnacht in Krisenzeiten“, „Geld für Bildung in Krisenzeiten“, „Vorsorge in Krisenzeiten“ usw.
Bei vielen von uns löst die beständige Flut an schlechten Nachrichten Gefühle der Machtlosigkeit und Ohnmacht aus, denn sie überschreiten unseren direkten Einfluss- und Handlungsbereich. Krisen führen uns vor Augen, wie komplex unsere globalisierte Welt ist, wie viele Akteur*innen in den Krisen mitspielen und wie sich einige Krisen wie der Klimawandel durch strukturelle Faktoren wie eine kapitalistische und auf Konsum ausgerichtete Grundordnung scheinbar verselbstständigt haben. Dabei verstärkt soziale und strukturelle Ungleichheit für viele das Gefühl der Ohnmacht und Machtlosigkeit. Menschen sind nicht alle im gleichen Maße von Krisen betroffen und lassen sich auch nicht im gleichen Maße von ihnen betreffen. Die ungleiche Betroffenheit kann u.a. mit strukturellen Ungleichheitsverhältnissen und gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen zusammengedacht werden und anschließend sind Sexismus, Rassismus, Ableismus, Queerfeindlichkeit, Klassismus, aber auch die massive globale Ungleichheit als eigene Krisen zu verstehen; als Krisen für die jeweils Schlechtergestellten. Ungleichheitsverhältnisse und Krisen sind ineinander verwoben, werden durch sie ausgelöst oder lösen sie aus.
Ich beobachte in meinem sozialen Umfeld zahlreiche Wege des Umgangs mit Krisen. Im Bewusstsein, dass Einzelne die Welt nicht retten können und unser individueller Einfluss vielleicht so gering ist wie nie, werden Personen aktiv: Viele junge Menschen setzen sich für Klimagerechtigkeit und -schutz ein, BIPoCs und ihre Allys gehen gegen strukturellen und institutionellen Rassismus auf die Straße, Wissenschaftler*innen analysieren Fragen von Bildungsgerechtigkeit, die älteren Generationen bilden sich zum Thema Queerness, viele Menschen spenden Geld, v.a. Frauen erheben ihre Stimme für Geschlechtergerechtigkeit in der katholischen Kirche. Menschen zeigen politisches und soziales Engagement, selbst wenn ihnen ganz bewusst ist, dass sie als Einzelperson keine große Revolution auslösen werden.
Ich glaube, dass diese Strategien eine Funktion haben, die über den Wunsch von Veränderung und Verbesserung des Status quo hinausgeht. Für den*die Einzelne*n, mich eingeschlossen, sind sie wichtige Strategien, das Ohnmachtsgefühl, den Kontrollverlust, die Machtlosigkeit, die Krisen auslösen, auszuhalten. Im Moment des Aktivismus, des Ehrenamts, des Einsatzes für uns selbst und andere, erlangen wir unsere Agency zurück, die die Krise uns nimmt. Ohnmacht kann durch Aktivität ein produktives Potenzial entfalten, kann uns Wege eröffnen, ein Gespür für die Krisen im Nahbereich sowie für das Potenzial aus diesen eine nachhaltige Veränderung herbeizuführen, zu entwickeln. In diesem Moment kann aus Ohnmacht Macht, aus Passivität Aktivität und aus Akzeptanz Kritik werden. Vor allem beschäftigt mich die Frage, ob die Welt nicht schon immer in Krisenzeiten war. Ist nicht die Menschheitsgeschichte eine einzige Krise?
Und trotz Aktivismus und Engagement bleibt immer ein Rest, der sich unserer individuellen Kontrolle entzieht. Religiöse Menschen verweisen in diesem Rest auf Gott, auf etwas Höheres, dessen Größe und Transzendenz unzugänglich für uns bleibt. Für mich bleibt v.a. die Hoffnung auf etwas Größeres, das im direkten Gegensatz zu meinem Krisenerleben steht und darauf, dass ich das bleibende Gefühl der Machtlosigkeit annehmen kann, denn ich als Mensch bin nicht dafür bestimmt, alle Zügel in der Hand zu halten. Krisenzeiten in einer globalisierten Welt bedeuten nicht nur die Möglichkeit zur nachhaltigen Veränderung, sondern auch die Notwendigkeit, Survival Strategies im Gewahrsein eines Ohnmachtempfindens zu entwickeln.
Hannah Drath ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich für Katholische Religionsdidaktik an der Universität Paderborn.
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