Der kleine, aber auch radikalste, Unterschied zwischen gesund sein und krank sein, spürt man unter anderem spätestens bei der ersten Drehung der Drehtür, wenn man ein Krankenhauses betritt.
Die Schritte führen uns in eine Art Paralleluniversum, in dem persönliche und bekannte Regeln und Zeiten verschwinden und bringen uns näher an seine transitorischen Bewohner:innen die im Wesentlichen von einer Krankheit gezeichnet sind oder sich auf dem Weg der Heilung befinden.
In diesen Gängen und Aufzügen beginnt der Besuchende, ohne es zu merken, die Energie zu regulieren, die er aus dem Leben „draußen“ mitbringt: von den beruflichen Verpflichtungen, von einem Streit mit den Kindern, von der Organisation des Alltags.
Es ist notwendig eine Einstimmung auf die Szene des Ortes zu schaffen. Wir tun dies beispielsweise, indem wir den Rhythmus der Sprache und der Bewegungen verlangsamen, die Stimme senken und weicher gestikulieren.
Die Gesprächsthemen am Krankenbett werden existenziell: körperliches und psychisches Wohlbefinden, die Anpassung an eine Routine unter Fremden, der Körper, der den „invasiven“ Praktiken ausgesetzt ist, der Verlust der Privatsphäre und sogar der individuellen Identität.
Bei dieser absoluten Verwandlung, die ein Vorher und Nachher für die betroffenen Individuen schafft, wird nicht nur der Kranke verwandelt, sondern auch die Menschen um ihn herum. Das Offensichtliche hört auf, offensichtlich zu sein, und man findet sich selbst für die Banalitäten des Lebens dankbar, wenn man von Krankheit ist.
Wir ertappen uns beim Segnen.
In der jüdischen Tradition wird geschätzt, dass ein Mensch mindestens 100-mal am Tag einen Segen spricht. Man segnet das Aufwachen, also den Moment, wenn man den Schlaf hinter sich lässt und zum Wachsein zurückzukehrt, man segnet, dass der Körper seine lebenswichtigen Funktionen wiedererlangt, man segnet, dass man nach dem göttlichen Ebenbild erschaffen wurde, man ist dankbar für das Trinken und Essen, man segnet seine Kinder, dafür, dass man einen besonderen Moment erlebt. Am Ende eines Tages segnet man das Schlafengehen. Neben diesen und vielen anderen Segnungen, schreibt man Gott immer die Güte zu, das Gesegnete zu schenken.
Der Ursprung der Segenssprüche liegt nahe am Ursprung der Flüche, wo das, was ausgedrückt wird, sei es durch Dank oder Fluch (eine Praxis, die in der jüdischen Tradition viel kritisiert und abgelehnt wird), das Potenzial hat, Wirklichkeit zu werden.
Bei den zeitgenössischen Praktiken wie der Positiven Psychologie und der Achtsamkeit, werden der Akt der Dankbarkeit und die Achtsamkeit für jeden lebenswichtigen Moment als wichtige Ressourcen für das Erreichen von Wohlbefinden angesehen. Diese Handlungen wurden schon sehr früh von den Religionen entdeckt, um das Bewusstsein dafür zu wecken, dass das Gegebene auch als magisch und /oder wundersam angesehen werden kann, aber nicht nur wegen seines göttlichen Ursprungs, sondern auch wegen der bloßen Tatsache seiner Präsenz.
Das erinnert mich an meinen früheren BloKK-Artikel, in dem ich erwähnte, dass das Konzept des Shaloms nicht nur Frieden bedeutet, sondern auch Gesundheit oder Wohlbefinden.
Im rabbinischen Kommentar zu Buch Numeri, in Numeri Rabba 11, finden wir einen langen Midrasch zu Num. 6, 26: „Der Ewige wendete sein Antlitz dir zu und gebe dir Frieden.“
Neben vielen anderen Interpretationen des Verses wird erwähnt, dass es keinen größeren Segen gibt als den Segen von SHALOM.
Numeri 6, 26, schafft es in seiner Knappheit und Schönheit, eine Offenbarung zu beschreiben, wie sie nur Jakob (Genesis 32,31) und Moses (und Exodus 33,11) erlebt haben können und die wir in Momenten der Verletzlichkeit auch gerne erleben würden:
SHALOM zu haben, sich des Friedens, der Gesundheit und der Vollständigkeit zu erfreuen, bedeutet nichts weniger, als Gottes Blick auf unserem Gesicht zu spüren.
Liliana Furman ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Pnina Navè Levinson Seminar für Jüdische Studien an der Universität Paderborn.
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