Den Anlass meines Beitrags bildet ein Leserbrief, der unmittelbar nach Brexit und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika von einem Leser der britischen Tageszeitung The Guardian geschrieben wurde (vgl. https://www.theguardian.com/education/2016/nov/18/existential-angst-and-homers-philosophy). Über Leserbriefe als Quelle von Fehlschlüssen schrieb Susan Stebbing in Thinking to Some Purpose (1939): Sie gab zu, eine leidenschaftliche Leserin von Leserbriefen zu sein und diese als Grundlage für ihre Analyse von Argumenten und Fehlschlüssen im Alltagsdenken zu benutzen. Ich schlage jetzt vor, unsere Aufmerksamkeit dem Brief von Jim McCluskey in The Guardian nicht als Quelle von Fehlschlüssen zu schenken, sondern weil er ein philosophisch zentrales Thema auf eine sehr einfache Art und Weise anspricht. Herr McCluskey schreibt:
I have been a disciple of the philosopher Homer (D’oh-levels; the wisdom of the Simpsons, 16 November) even before I heard his response to Bart’s request to switch on the TV: “Well, please turn something on, I am beginning to think.” The prospect of thinking is now more terrifying than ever. It is a courageous person who is prepared to think of the implications of having a narcissistic sociopath as commander-in-chief of the most potentially destructive armed forces the world has ever seen. A few of the other matters which do not bear thinking about include Brexit, the rapid loss of species diversity, and the population explosion. D’oh.
Herr McCluskey weist also darauf hin, dass zu denken (insbesondere in den Trump- und Brexit-Zeiten – und wir könnten hinzufügen: in Corona- und Kriegszeiten) erschreckend ist (es ist besser, einfach Netflix oder Videos auf Tik-Tok/Instagram/Youtube zu schauen). Zu denken erfordert den Mut, alle Aspekte vor Augen zu haben, die die Wirklichkeit ausmachen und ihre Konsequenzen und Implikationen für die verschiedenen Bereiche unseres Lebens explizit zu machen. So wird in diesem Brief eine Konzeption von Denken ersichtlich, die spezifisch philosophisch ist und insbesondere auf die Tradition der Hegelschen Dialektik zurückgeht. Es geht um das Denken als das Fassen der eigenen Zeit, und somit als die Anerkennung der eigenen Grenzen – es geht um eine Selbstreflexion, die das zur Geltung bringt, was alles in unserem Leben negativ ist und nicht stimmt; es geht um eine Reflexion, durch die wir erkennen, wie die Realität ist und wie sie sein sollte – wir erkennen somit die Spannung und Zerrissenheit zwischen Sein und Sein-Sollen. Man hat die Diskrepanz zwischen Idee und Realität klar vor Augen und man leidet, man ist erschreckt. Eine an dem „Philosophen“ Homer angelegte Reaktion dazu würde daher darin bestehen, dass wir einfach Netflix schauen. Eine eher Hegelsche Reaktion wäre leicht anders, das ist aber eine andere Geschichte.
PD Dr. Elena Ficara ist Akademische Oberrätin a. Z. am Institut für Humanwissenschaften im Fach Philosophie.
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