Meine Mutter hat mir oft gesagt “Jeder Mensch hat seine Gründe. Dafür was er denkt, wie er handelt. Dafür was er nicht denkt und wie er nicht handelt. Bitte versuch diese Gründe zu verstehen und zügle dein Urteil.” Und so häufig ich mich in all den Jahren immer wieder dabei erwischt habe, mit dem Urteil schneller zu sein als mit der Suche nach Gründen, ist es sicherlich dieser Satz, der mir die Empathie eines Jesus von Nazareth, aber auch die hermeneutischen Anliegen diskursiv-komprehensiver Wissenschaftstheorien so sympathisch erscheinen lässt.
Der Gedanken verliert seine Trivialität in dem Moment, in dem wir darüber nachdenken, wie wir, acht Milliarden Menschen, zusammenleben wollen (und können!). Das gute Verständnis füreinander, für unsere Hoffnungen und Ängste, ist die Basis, von der Gerechtigkeitskonzepte aus ihren Sinn erhalten und nicht zuletzt in politischen oder wirtschaftlichen Institutionen verwurzelt werden.
In den letzten Jahren hat mich jedoch zunehmend ernüchtert, dass ich trotz bester Verstehensabsicht, die Welt und die Gründe der Menschen doch nur immer weniger zu begreifen vermag. Die Paradoxien und Widersprüchlichkeiten unserer weltweiten Entwicklungen lassen mich immer häufiger stolpern über vermeintlich gute Ziele, lähmen meine Geduld und Ausdauer. Einerseits leben und werben wir ständig dafür, die Gründe für eine bestimmte Weltdeutung oder eine Handlungsorientierung miteinander ins Gespräch zu bringen. Wir setzen darauf, dass die deliberative Verständigung am Ende ein Minimum an Rationalität bei einem Maximum an Heterogenität in den Entscheidungsfindungsprozessen gewährt. Andererseits merken wir ständig, dass der Rationalitätsnachweis uns nicht motiviert auch umzusetzen, was wir zuvor als das bessere, richtigere oder nachhaltigere Vorgehen bestimmt haben.
Und ja, in religiöser und nicht-religiöser Weisheitsliteratur ist immer wieder die Rede davon, dass genau dies unsere Menschlichkeit ausmacht: Gutes zu wollen und es – along the way – dann doch zu vergessen, zu ignorieren, zu versäumen.
Mittlerweile haben viele kluge Menschen diese beinah alltägliche (Selbst-)Erkenntnis soziologisch ausgearbeitet, psychologisch verklammert und durch unsere kulturellen Brenngläser fokussiert. Nun weiß ich, dass wir mit der Steigerungslogik überfordert sind und uns deshalb lieber mit diversen Angeboten aus Internet und Medien zerstreuen, anstatt füreinander einzustehen; nun kann ich erklären, warum Ressourcenverbrauch, Ausbeutung und Naturzerstörung ständig zunehmen, obwohl uns niemals klarer war, dass die planetaren Grenzen erreicht sind; nun vermag ich die riesigen Autos, festungsähnlichen Häuser und ideologischen Glasperlenspiele als Überkompensation unserer Unsicherheit und Angst zu deuten. Und dennoch: Je besser ich die Gründe der Menschen zu verstehen meine, umso schwerer lässt sich der Status-quo akzeptieren. Sicher bin ich mit diesen Gedanken nicht alleine, denn zeitgleich nimmt die Suche nach alternativen, nachhaltigen, solidarischen Lebensformen zu. Konzepte wie Paradising oder Postgrowth ergründen Möglichkeiten, um das Gesollte als ein Gewolltes einholen zu können. Neben den Graswurzelbewegungen der letzten Jahre könnten gerade auch religiöse Gemeinschaften als Pionier*innen für Veränderungen ein sozialpolitisches Echo erzeugen, Mitmenschlichkeit nicht nur predigen, sondern lebbar machen. Und wenn uns auch hier ein ums andere Mal die Geschichte zu überholen droht, so fordert mein Glaube mich auf, nicht zu resignieren und in meiner Zeit das zu tun, was ich tun kann. Es ist dieser Glaube, an dem sich ohne Sentimentalitäten die Hoffnung auf eine humanere, friedlichere Zukunft entzündet. Und nun erinnere ich wieder meine Mutter, die auf mein Murren mit einem geduldigen Lächeln mindestens ebenso oft betont hat, dass es eben diese Hoffnung ist, die sich mit kleinherzigen Gründen nicht zufriedengeben kann.
Dr. Anne Weber ist Stipendiatin am Graduiertenkolleg „Kirche in Zeiten der Veränderung“ an der Theologischen Fakultät Paderborn.
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