Nahtoderfahrungen und ihre Deutungen

Laut verschiedenen Umfragen hatten schätzungsweise mind. vier bis fünf Prozent der Menschen eine Nahtoderfahrung. Wenn über dieses Thema diskutiert wird, verläuft die Diskussionslinie oft an der Frage entlang, ob sie sich allein durch neuropsychologische Prozesse o.Ä. erklären lassen, das „letzte Atemholen“ in einem Abbauprozess darstellen, oder ob sie tatsächlich einen kleinen Blick auf ein womögliches Jenseits verschaffen, oder zumindest einen kleinen Vorgeschmack ermöglichen. Meiner Ansicht nach ist diese Debatte spannend, lässt allerdings wenig Raum für eine andere Fragedimension: Was macht eine Nahtoderfahrung mit einem Menschen? Hinterlässt sie eine freisetzende oder bedrückende Wirkung?[1] Wie verändern sich Deutungsmuster und Sichtweisen auf die Welt, wie beeinflussen sie das Leben? Von außen Deutungsmuster zu rationalisieren kann schnell übergriffig werden oder zumindest Dimensionen wegrationalisieren, was dann dazu führt, dass diese Erfahrungen manchmal selbst im engsten Familienkreis nicht miteinander geteilt werden, weil sie schließlich „nur Hirnprozesse“ beschreiben oder als irrational angesehen werden, oder dass ihnen zumindest für sich selbst nicht weiter nachgespürt wird, obwohl sie doch eigentlich etwas sehr Bereicherndes sein können.

Das Thema ist für mich besonders interessant, weil ich selbst im Alter von 7 Jahren einer solchen Erfahrung begegnet bin. Die Frage war für mich als Kind nicht, welche Hirnprozesse ablaufen, noch, ob das, was ich wahrgenommen habe, „wahr“ oder „falsch“ war. Da war überhaupt gar kein Gedanke. Nur tiefe Ruhe und Stille, wie ich so eine Art von Stille im Leben nie wieder vernommen habe, auch wenn ich sie mir immer wieder versuche ins Gewahrsein zu rufen. Und auch sehr viel Demut, Gleichmut, Sanftmut, ein liebevolles und ruhiges Gewahrsein der Welt trotz und gerade wegen einer lebensbedrohlichen Situation. Diese Erfahrung war ein außergewöhnliches Geschenk für mich, da dort etwas war, was ich selbst mit größter Mühe und Anstrengung niemals selbst hervorrufen oder herstellen könnte.

Ich lese mir gern Berichte von anderen durch, die über ihre Nahtoderlebnisse berichten und ihre Erfahrung, oder das, was sie aus dieser Erfahrung mitnehmen, teilen. Denn die Erfahrung selbst lässt sich weder ganz teilen noch in Worte fassen, aber die Konsequenzen und persönlichen Erträge für die eigene Weltdeutung lassen erahnen, dass ein innerlicher Prozess stattgefunden hat, der aus oder von dieser Erfahrung nachhaltig geprägt ist. Zwar lässt sich aus meiner Sicht nie ganz rekonstruieren, ob nun gewisse Erfahrungen allein ein bestimmter Auslöser für Entscheidungen und Inhalte im Leben sind oder nicht, aber doch müssen sie unabweislich einen Einfluss auf uns genommen haben. Hin und wieder stelle ich mir z. B. die Fragen: Hätte ich wohl Philosophie und Theologien im Dialog studiert, wenn ich diese Erfahrung nicht erlebt hätte? Wie wäre mein Leben dann wohl verlaufen, ähnlich oder ganz anders? Wie hätte ich diese Erfahrung nicht anders als ein Geschenk deuten können, christlich geprägt? Hätte ich mich wirklich so sehr mit dem Buddhismus beschäftigt, wenn mich diese Stille nicht innerlich so ergriffen hätte? 

Auch mit Menschen aus anderen Traditionen habe ich gesprochen oder von ihren Berichten gelesen. Dabei ging es gar nicht primär um eine Übereinstimmung oder Unterschiede des Erlebten auf inhaltlicher Ebene, wie eine gemeinsame Erfahrung eines sanften und hellen Lichts, noch um ein rationalisierendes Erklärungsmuster, sondern vielmehr um Deutungsmuster vor dem Hintergrund der eigenen religiösen Tradition (wenn sich aus einer Tradition heraus verstanden worden ist) und persönlichen, zaghaften Deutungsversuchen. Denn sind diese Berichte nicht gerade so spannend und bereichernd, weil sie Offenheit zur Deutung und zum Staunen lassen, wenn wir ihnen diesen Raum gewähren, in einer Zeit, in der wir am liebsten alles erklären und verstehen möchten? Und sind sie nicht gerade ein Anlass zum interreligiösen und interdisziplinären Dialog, weil sie sich von so vielen Perspektiven aus adressieren lassen, weil sie auf unterschiedliche Weise herausfordern und anregen?


[1] Beides scheint z. B. nach den Schilderungen der Befragten von Moody möglich zu sein. Vgl. Raymond A. Moody, Nachgedanken über das Leben nach dem Tod. 3. Aufl., Reinbek: Rowohlt 2012.

Sarah Lebock ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK).

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