In wenigen Tagen wird das jüdische „Neujahrsfest der Bäume“, Tu bischwat, (17.01.22) gefeiert. Seine mystische Tradition reicht bis ins Mittelalter zurück. Tu bischwat feiert den ersten Austrieb der Früchte der Bäume und zeigt einen kleinen Vorgeschmack auf das Ende des Winters.
Der Baum ist eine Inspirationsquelle für viele Kulturen, er kann Kontinuität und Verwurzelung, Fruchtbarkeit, die Verbindung mit der Unterwelt, mit der Gegenwart und mit den göttlichen himmlischen Welten darstellen. Bei verschiedenen Völkern hat der Baum eine fast spirituelle Ähnlichkeit mit dem Menschen, er wird vergöttert und respektiert. Ihm werden magische und prophetische Eigenschaften zugeschrieben. Die biblische Tradition betrachtet den Baum als Rätsel und Spender von Früchten, die Wissen wecken (Genesis 2), sie personifiziert und politisiert den Baum (in der Fabel von Iotam, Richter 9), behandelt ihn als Belohnung und begehrtes Gut (in der Prophezeiung von Hoshea 14), bis hin zur ausgefeiltesten und wertvollsten Form innerhalb der jüdischen Tradition: der Betrachtung der Thora selbst als Baum des Lebens (Sprüche 3).
In einer Erzählung aus dem babylonischen Talmud (Taanit 23a) schwingen zwei überraschend zeitgenössische Bedeutungen des Baumes und der Natur insgesamt mit, zu denen sich ein Appell gesellt, der sinnvollerweise aktuell ist. Hier in zusammengefasster Form:
Honi HaMe´aggel soll ein Weiser gewesen sein, der die Fähigkeit besaß, Regen fallen zu lassen, indem er sich auf einen Kreis (haMaagal) stellte und betete, dass in Zeiten der Dürre der Regen kommen möge. Eines Tages ging Honi die Straße entlang, als er einen Mann sah, der einen Johannisbrotbaum pflanzte.
„Da fragte er ihn: Nach wie vielen Jahren trägt er? Jener erwiderte: Nach siebzig Jahren. Dieser fragte weiter: Bist du überzeugt davon, daß du noch siebzig Jahre leben wirst? Jener erwiderte: Ich habe Johannesbrotbäume auf der Welt vorgefunden; wie meine für mich pflanzten, ebenso will ich für meine Nachkommen pflanzen. Hierauf setzte er sich, aß sein Brot, worauf der in den Schlaf fiel.“ (b.Taanit 23a)
Eine Felsenwand bildete sich um ihn, sodass er für niemanden sichtbar war und schlief siebzig Jahre lang. Als Honi erwachte, sah er einen Mann, der Johannisbrot von diesem Baum pflückte. Ḥoni fragte: Bist du derjenige, der diesen Baum gepflanzt hat? Der Mann antwortete ihm: Ich bin der Sohn seines Sohnes.
Darauf ging Ḥoni nach Hause und fragte die Mitglieder des Hauses: Ist der Sohn von Ḥoni HaMe’aggel am Leben? Sie sagten zu ihm: Sein Sohn ist nicht mehr bei uns, aber der Sohn seines Sohnes lebt noch. Er sagte zu ihnen: Ich bin Ḥoni HaMe’aggel. Sie glaubten ihm nicht. Er ging in das Lehrhaus, wo er die Jünger über einen Gelehrten sagen hörte: Seine Halachot (Gesetze) sind so erhellend und so klar wie in den Jahren von Ḥoni HaMe’aggel.
Ḥoni sagte zu ihnen: Ich bin es, aber sie glaubten ihm nicht und zollten ihm nicht den gebührenden Respekt. Ḥoni wurde sehr wütend, betete um Gnade und starb. Rava sagte: Dies erklärt die Volksweisheit, die die Menschen erzählen: (oChevruta o Mituta) Entweder Freundschaft oder Tod.
Neben der Botschaft der Nachhaltigkeit und der Rücksichtnahme auf die Natur für unsere nächsten Generationen, die die Geschichte bietet, stellen wir fest, dass der Talmud (und die jüdische Tradition im Allgemeinen) Einsamkeit, Askese und alternative Formen zu der Gemeinschaft und des sozialen Lebens bekämpft. Im aramäischen Original klingt „o Chevruta o Mituta“ am stärksten nach.
Wir erleben gerade paradoxale Zeiten, in denen „Chevruta“ (Gesellschaft) zu „Mituta“ (Tod) oder Krankheit führen kann und das Alleinsein zum Leben. Die Herausforderung ist nun, den Gegensatz zu durchbrechen, den Honis Geschichte darstellt und nach Mittelwegen zwischen den beiden Extremen zu suchen. Es ist meine Hoffnung, dass uns allen dies gelingt.
Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Jüdischen Studien der Universität Paderborn.
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