Das Judentum wird nicht nur als eine Religion betrachtet, sondern als eine Kultur oder eine Zivilisation die „use magnificient the narrative to explore great normative questions“ (Robert Cover)Die großen jüdischen Erzählungen finden sich in der Bibel (Thora) und organisieren eine Weltanschauung auf eine bestimmte und kohärente Weise, die Sinn und Identität vermitteln. Diese sind: die Geschichte der Erschaffung der Welt (Bereshit / Genesis), die Geschichte von Abram, der das Land seiner Vorfahren (Lech Lecha) verlässt, die Geschichte des Auszuges aus Ägypten (EXODUS) und die Geschichte der Übergabe der Tora auf den Berg Sinai. Jede dieser Erzählungen entfaltet eine Reihe von Werten und Konzepten, die ein einzigartiges und originelles Gewebe bilden, das sich von anderen benachbarten Kulturen unterscheidet und sich über mehrere Jahrtausende entwickelt und erweitert hat, ohne seine urwüchsigen Knoten zu brechen.
Angesichts der Nähe der Pesach-Feier (die mit dem Beginn des Frühlings in der nördlichen Hemisphäre beginnt, in diesem Jahr vom 08.-16.04.2020), nutze ich diese Gelegenheit die Bedeutung der Erzählung des Auszuges aus Ägypten, des Höhepunkts der göttlichen Offenbarung und der Übergabe des Gesetzes zu untersuchen, grundlegende Geschichten, sowohl in der Konstruktion des kollektives Gedächtnis, und von der (Selbst-) Identität und Ethos als Volk.
Der Exodus, der Auszug der Kinder Israel aus der vom Pharao auferlegten Sklaverei in Ägypten, war das Werk des Gottes Israels, von Moses seinem ersten Propheten vermittelt. Es ist die erste Geschichte, in der ein Kollektiv auftaucht, davor liegen die Tage der intimen Familiengeschichten von Jakob und seinen Kindern: ein versklavtes Volk, das den Launen seine Tyrannen ausgesetzt ist. Ein traumatisiertes Volk, schlägt die Geschichte vor, deren Kinder in den Nil geworfen wurden und riesige architektonische Werke für die Herren bauten. In einer Handlung, in der Gottes aggressives Eingreifen die Natur und ihre Manifestationen wesentlich veränderte, und die in der Ermordung der erstgeborenen Ägypter gipfelte, wird erreicht, was politische Verhandlungen nicht erreicht hatten: Die Kinder Israels verlassen Ägypten.
Ein ängstliches Volk geht in Richtung eines unbekannten Epos, folgt einem Versprechen, überquert das Rote Meer und rückt in die herausforderndste Geographie vor: die Wüste. Die Entstehungsgeschichte dieses Volk ist weder mit edlen Ursprüngen noch mit mythischen und heldenhaften Schlachten geschmückt: Der Ursprung ist die Sklaverei, die Unterwerfung, die Hilflosigkeit. Aus dem am meisten diskreditierten sozialen, wirtschaftlichen und psychologischen Zustand wird ein Volk geboren. Der Zustand der Sklaverei naturalisiert ein Rechtssystem, von dem angenommen wird, dass es Männer und Frauen mit verschiedenen Rechten und Privilegien gibt, eigentlich zeigt es, dass es Männer und Frauen gibt, die die Kategorie der Männer und Frauen nicht erreichen: Sie sind zu Dingen, zu Werkzeuge und Tiere degradiert. Sklaven sind Gebrauchs- und Konsumgegenstände, werden gekauft, verkauft und weggeworfen. Dem System liegt die Macht des Herrn zugrunde, Eigentümer von Leben und Schicksalen. Auf der anderen Seite könnte nur die Tat eines allmächtigen Gottes, der unermessliche Wunder tut, die Sklaverei brechen, die der Sklavenkörper grundsätzlich benutzt, aber definitiv sich in seiner Psyche einnistet.
In My Bondage and my Freedom, schafft es Frederik Douglas, ein schwarzer Sklave aus den südlichen USA, in den Norden zu fliehen. Ein imaginärer Dialog mit seinem Sklavenhalter (1855) verdeutlicht seine Argumentation, die ihn in die Freiheit führte:
„ I’m myself, you are yourself; we are two distinct persons, two equal persons. You are a man and so am I. God created both and made us separate things. I´m not by nature bond to you or you to me. Nature doesn´t make your existence depend upon me, or mine to depend upon yours. I cannot walk upon your legs or you upon mine. I cannot breathe for you, and you for me; I must breathe by myself and you for yourself (…)
Die Kinder Israels reisten nicht umsonst vierzig Jahre durch die Wüste: Die Generation Ägyptens konnte kaum von den Traumata der Sklaverei geheilt werden, aber vielleicht ihre Kinder oder die Kinder ihrer Kinder. Auf dem Weg passiert was die nächste große Erzählung aufdeckt: Die Offenbarung Gottes erfolgt in einem direkten Dialog mit dem Volk Israel durch ein System von Gesetzen, den Dekalog. Matan Tora, buchstäblich die Übergabe der Thora: Jedes Gebot organisiert die Sklavenmentalität der Kinder Israel. Gott stellt sich vor, lehnt andere Götter und Herren im zweiten Gebot ab, verlangt den höchsten Respekt für seinen Namen, für den Schabbat und für die Zeit als solche; für die Eltern und für die Grundlagen des Zusammenlebens: nicht töten, nicht stehlen und kein falsches Zeugnis auflegen. Und dann die ethischen Gebote: du wirst nicht begehren was der andere hat …
Der Dekalog ist ein Versuch, die Sklaverei in den Köpfen zu beseitigen: wo es vorher einen Herrn gab, wird es jetzt Gott geben, wo es keine Zeit gab, wird es Schabbat geben, wo die Familie auseinander gerissen zerstückelt wurde, gibt es jetzt Vater und Mutter, wo es kein Gesetz gab, wird es eins geben und Laune und Gier werden jetzt kontrolliert. Die biblische und rabbinische Weisheit vereinte die Erzählung des Exodus und die der Tora-Übergabe in (Ex. 32,16)
„Und die Tafeln waren ein Werk Gottes; und die Schrift war eine Schrift Gottes eingegraben in die Tafeln“
In einem Kommentar im Pirkei Avot (Sprüche der Vater)
(…) Lies nicht Charut (geschnitzter Text), sondern Cheirut (Freiheit), dass es keinen Menschen gibt, der freier ist als derjenige, der sich mit dem Studium der Tora befasst.
Auch wenn die Bibel uns klar macht, dass der Text des Dekalogs selbst von der göttlichen Hand geschrieben wurde, „Auf den Tafeln geschnitzt“ (auf Hebräisch Charut), gehen die Weisen noch einen Schritt weiter. Sie schlagen vor, dass der Text behauptet, dass das Gesetz im Wesentlichen von der Freiheit des Individuums (Cheirut) spricht, indem er betont, dass es kein freieres Individuum geben würde als dasjenige, das die Tora studiert. Der Unterschied zwischen Charut (geschnitzt) und Cheirut, das „i“ (Jod), das die Zahl zehn darstellt (die Buchstaben auf Hebräisch besitzen einen numerischen Wert) wären die Zehn Gebote, die im Sinai offenbart wurden. Klarstellung für eine Gruppe ehemaliger Sklaven, die misstrauisch sind und sich fürchten aus einer Sklaverei zu entfliehen, um in eine andere einzutreten. Das Gesetz befreit uns, sagt der Text. Nur wenn das Gesetz nicht regiert, ist eine Sklaverei, wie die von Ägypten wieder möglich.
Liliana Furman ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Jüdische Studien an der Universität Paderborn.