Es ist die Zeit der großen Rück- und Ausblicke. Das vergangene Jahrzehnt wird für die katholische Kirche in Deutschland nicht als gutes in Erinnerung bleiben. In diesem Januar ist es zehn Jahre her, dass Pater Klaus Mertes, damals Rektor am Berliner Canisius-Kolleg, in einem Brief die Fälle sexueller Gewalt an der Schule öffentlich machte. Er trug entschieden dazu bei, die Strukturen des Verschweigens zu brechen, unter denen bis heute viele Menschen leiden. So groß der Ärger in und außerhalb der Kirche über das Verzögern bei der Aufklärung ist, so sehr haben viele in den vergangenen zehn Jahren verstanden, dass es dazu keine Alternative geben darf.
Erst die nun beginnende Dekade wird zeigen, wie sehr der Missbrauchsskandal – und die teils verspäteten Reaktionen – auch die akademische Theologie nachhaltig prägen werden. Schon jetzt stellen sich im Kirchenrecht, der Moraltheologie oder der Dogmatik Fragen. Zeichnen wir in der Ekklesiologie, der Lehre von der Kirche, ein Gemeindebild, das bestehende Machtstrukturen verfestigt oder eines, das diese kritisch reflektiert? Wo spricht die kirchliche Liturgie eine Sprache, die heute missverständlich ist – zum Beispiel, weil sie eine hierarchische Trennung zwischen Geweihten und Nicht-Geweihten zementiert? Überhöhte Ideale gilt es zu dekonstruieren. Es zeichnet sich ab, dass mehr von der sündigen Kirche als der starken Stadt auf dem Berg gesprochen werden wird.
Ich frage mich, ob ein ähnliches kritisches Hinterfragen der eigenen Machtstrukturen auch für die Rolle der Kirche in der Gesellschaft gelten wird. Mitunter kommt es mir vor, als ließe sich der Relevanz- und Vertrauensverlust vorerst durch die Strukturen kompensieren, von denen die Kirche noch immer profitiert. Denn trotz hoher Austrittszahlen waren die Kirchensteuereinnahmen zuletzt sehr hoch. Dabei ist es keinesfalls selbstverständlich, dass dies, ebenso wie manche historisch gewachsene Sonderstellung der Kirchen, im Jahr 2030 noch plausibel sein wird. Die öffentlichkeitswirksamen Proteste der Bewegung Maria 2.0 oder die Hoffnungen, die in den Synodalen Weg gesetzt werden, dessen Auftakt bevorsteht, sind Zeichen für wachsenden Reformdruck, der in den kommenden Jahren nicht geringer werden dürfte. Sie sind aber zugleich Zeichen dafür, dass es noch immer Menschen gibt, denen die Zukunft der Kirche nicht gleichgültig ist. Es könnte die Aufgabe der Kirche in den 20er-Jahren sein, Strukturen zu finden, die nicht dazu führen, dass diese Menschen sich enttäuscht abwenden.
Lukas Wiesenhütter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie und am ZeKK an der Universität Paderborn.
Gesprochen haben drei Betroffene. Ich war einer von ihnen. Klaus Mertes hat vor allem zugehört und geglaubt, was weiter ihm berichtet haben. Dafür wurde er heftig angefeindet innerhalb der Kirche und marginalisiert – bis heute.
Thomas Doyle, der Kirchenrechtler aus den USA hat sich eine Generation vorher an die Seite der Opfer gestellt. Auch er wird bis heute ausgegrenzt. Vielleicht fängt die akademische Theologie mal damit an, diese großartigen Männer und Frauen wird Marie Collins zu ehren.