Ingrid Scharlau ist Professorin für Kognitive Psychologie und Psychologiedidaktik. Motiviert durch ihre Erfahrung als Mentorin initiierte sie 2007 zusammen mit der damaligen Gleichstellungsbeauftragten Irmgard Pilgrim das Mentoring-Programm für Doktorandinnen, mit dem Ziel langfristig den Frauenanteil unter den Professuren zu erhöhen. Im folgenden Bericht teilt sie ihre Gedanken zu Mentoring und der Wirkung von Vorbildern:
Seit gut 15 Jahren leite ich das Mentoring-Programm für Doktorandinnen an der Uni Paderborn. Vielleicht ein guter Zeitpunkt, um sich zu fragen, ob ich so etwas noch einmal anfangen würde.
Wie üblich in der Wissenschaft – Differenzierungsfähigkeit ist ja eine der Eigenschaften, die wir uns gerne zugutehalten – ist die Antwort komplex. Weil es hier um ein spezifisches Mentoring-Programm geht (mit anderen habe ich nur begrenzte Erfahrungen), möchte ich mit der persönlichen Seite beginnen. Wenn es nur darum ginge, was mir Freude macht, dann würde ich es ohne Zögern noch einmal starten. Ich habe mit allen Frauen, die es „koordiniert“, wie das Verwaltungsdeutsch möchte, haben, sehr gerne zusammengearbeitet, und ich habe die Zusammenarbeit immer als ungewöhnlich kooperativ, kollegial und angenehm erfahren. Das kann Zufall sein. Vielleicht hat es aber doch eine inhaltliche Komponente, die sich daraus speist, dass im Programm ganz überwiegend Sinnvolles getan wird. Oder sagen wir bescheiden: etwas, das als sinnvoll erlebt wird. Ich freue mich auch jedes Jahr wieder darüber, welch tolle, interessante und schwungvolle Frauen sich bewerben.
Habe ich das Gefühl, Wirkung entfaltet zu haben? Das ist schon schwieriger zu beantworten. Quantitativ ist unsere Stichprobe auch nach 15 Jahren viel zu klein, als dass sich sichere Schlüsse daraus ziehen ließen, selbst wenn man von Problemen der Selbstselektion, Rückschaufehlern, der raschen Veränderung der Rahmenbedingungen der wissenschaftlichen Karriere in den letzten Jahren und vielem anderen absieht. Ja, es gibt einige Professorinnen unter den Alumnae, und diese berichten auch, dass ihnen die Teilnahme geholfen habe. Was ich aber sagen kann ist, dass sich meine ursprünglichen Hoffnungen nicht erfüllt haben. Das hat mit zwei Dingen zu tun. Einerseits ist die Erhöhung des Frauenanteils unter den Professuren deutlich zäher und langsamer, als ich es erwartet habe, und ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich 2023 noch abfällige Bemerkungen über die (hochqualifizierte) „Dame“ in einem Bewerber*innenfeld hören muss. Ich finde es frustrierend, wenn in Forschungsanträgen stolz berichtet wird, wie viele weibliche Projektleitungen man im Konsortium habe, und ich als Gutachterin dann feststellen muss, dass sie aus einer Hilfswissenschaft kommen, die schon von sich aus relativ weiblich besetzt ist. Und es macht mich fassungslos, wie lahm die Verbesserung in einigen Feldern ist und wie wenig es den Kollegen ausmacht, schon wieder keine Frau berufen zu haben.
Demgegenüber steht aber die Erfahrung, dass es für die Teilnehmer*innen selbst oft durchaus einen Unterschied zu machen scheint, im Programm gewesen zu sein. Selbst wenn sich die Rahmenbedingungen nicht geändert haben (wie konnte ich das bloß erwarten?), würde ich denken, dass viele, wenn nicht sogar die allermeisten Wissenschaftlerinnen im Programm durch die Gruppe, mithilfe der Information und der Transparenz und durch ihre Mentorin eine Unterstützung erfahren haben, die im besten Fall einen Unterschied macht – und zeigt, dass man in der Universität (relativ) solidarische Netzwerke bilden kann. Universitäten sind (wie viele andere Institutionen) gut darin, Menschen zu „vereinzeln“, d.h. ihnen den Eindruck zu vermitteln, dass sie Probleme als einzelne Menschen lösen müssen (und können). Damit verliert man eine sehr wichtige Ressource, seine Mitmenschen – hier: seine Mitfrauen.
Eine Mitfrau möchte ich noch besonders hervorheben, nämlich die Mentorin (und die Gelegenheit nutzen, einen großen Dank an all die Professorinnen zu senden, die sich die Zeit nehmen, mit jungen Wissenschaftlerinnen ausführlich zu sprechen!). Im Netzwerk spielt die Mentorin eine besondere Rolle.
Mentoring hat für mich damit zu tun, Vorbilder zu haben. Vorbilder genießen allerdings derzeit keinen guten Ruf. Man möchte lieber, dass Menschen individuell und autonom sind, Dinge selbst tun, nach eigener Façon. Das ist als Leitbild für die Ferne sicher auch richtig, aber Lernen durch Imitation hat nicht umsonst eine wichtige Funktion in der menschlichen Entwicklung. Ich halte es für sinnvoll, darüber nachzudenken, was man am Vorbild, durch ein Vorbild lernen kann, wozu Vorbilder dienen, wie sie entlasten und auch erfreuen können – und, natürlich, was sie nicht leisten können oder, anders ausgedrückt, wann die Orientierung am Vorbild zu weit geht. Letzteres tun wir oft genug, deswegen beschränke ich mich hier auf Ersteres.
Ein Vorbild ist für mich nicht identisch mit einem Ideal. Ein Vorbild ist für mich eine konkrete, gesamte, leibliche Person, bei deren Beobachtung ich mir vorstellen kann: „So möchte ich auch sein“. Das ist zum Teil eine leibliche Reaktion („so kann ich auch sein“), zum Teil eine emotionale („das fühlt sich gut an“), zum Teil eine kognitive („das ist interessant“), immer mit einer positiven Bewertung. Wenn ich neue Rollen übernehme – als neue Professorin waren das für mich zum Beispiel die „Führung“ von Mitarbeiter*innen und die Betreuung von Early-Career-Wissenschaftler*innen (die damals noch nicht so hießen), Auswahlgespräche bei Einstellungen, Leitung von Selbstverwaltungsgremien und vieles mehr –, dann hilft es mir, eine Frau vor Augen zu haben, die genau diese Tätigkeiten erledigt, in einer Weise, die mich anspricht und anspornt, es ihr gleich zu tun. Wirksam sind dabei oft ganz kleine Dinge, Gesten beispielsweise, Haltungen, die mein abstraktes Bild davon, wie es beispielsweise ist, eine Chefin zu sein, mit konkretem, lieblichem Leben füllen. In dem Moment wird diese Aufgabe imitierbar, und wenn ich sie eine Weile imitiert habe, fülle ich sie dann auf meine Weise aus.
Das Nachahmen eines Vorbilds ist, wie beim Lernen durch Imitation, also ein Schritt, eine Übergangsphase. Eine Phase, in der ich mich entlaste, in der ich etwas Schwieriges und Abstraktes mit Lebendigem fülle, ausprobiere und mir dann peu à peu zu eigen mache. Nie (oder vielleicht: höchst selten) ist Alles an einer Frau Vorbild.
In dieser Weise Vorbilder zu haben, ist mir auch deswegen wichtig, weil ich so Leistungen von Frauen ein wenig weitertragen kann, über ihren eigenen Wirkungsbereich hinaus. Auch das gehört zum Mentoring dazu, und auch deswegen würde ich es noch einmal machen.