kultur & geschlecht #2

Emanzipative Potenziale

Die hier versammelten Beiträge der zweiten Ausgabe nach dem Relaunch teilen in der gemeinsamen Betrachtung ein Anliegen: Die Autor*innen interessieren sich für widerständige und emanzipative Praktiken und Figuren sowie ihre Geschichten und Ästhetiken. Sie fragen nach deren Potenzialen für ein gleichberechtigtes, gewaltärmeres Leben sowie eine Vielfalt medialer Existenzweisen: in Dokumentar- und Spielfilmen, YouTube-Videos, dem Cyberspace, Assistenztechnologien und Streaming-Serien.

Im Alltag der Krisen und Katastrophen ­– der Demokratie- und Klimakatastrophe, dem Antifeminismus und Rassismus, queer- und transfeindlicher Gewalt – verstehen die einzelnen Beiträge emanzipative Potenziale nicht als eine Souveränisierung über diese Verhältnisse, sondern zeigen sie Möglichkeiten auf, miteinander andere als heteronormative und sozial hierarchische Existenz- und Beziehungsweisen – im doppelten Wortsinn – auszubilden: zu entwerfen oder zur Entfaltung zu bringen sowie durch Wissensbildung bestehende Ungleichheiten zu adressieren, zu politisieren und zu bekämpfen. Dieses Miteinander-Handeln schließt nicht nur menschliche Akteur*innen, sondern auch Maschinen und Algorithmen sowie mediale Figuren mit ein, die Komplexitäten verkörpern und uns Widersprüche eines abweichenden Lebens im Hier und Jetzt (vgl. Foucault 1992, S. 12) aushalten lassen.

Die fiktionalen und/oder realen Protagonist*innen der Beiträge reihen sich damit ein in eine Geschichte von Figuren, die, wie Félix Guattari schreibt, unser Unbewusstes bewohnen: Das Unbewusste sei u.a. von „Cowboys, Bullen, Gangstern, Belmondos, Marylin Monroes“ bevölkert (Guattari 2011, S. 17). Für Guattari war mit Figuren aus dem Film nicht nur eine unbewusste Besetzung, sondern die Hoffnung neuer Subjektivierungen und „Mikropolitik(en) des Wunsches“ (ebd., S. 10) verbunden. Über den Film hinausgehend sind dies andere als die von Guattari genannten Figuren: Lovers, Drag Personae, Hexen, Aktivist*innen. Es gilt, in krisenhaften Zeiten als Praxis der Kritik, des Widerstands und der Bildung eigene Wunschmaschinen zu bauen, wie es die Autor*innen dieser Ausgabe vormachen.

In vielerlei Hinsicht wird so der klassische Begriff der Emanzipation unter digitalmedialen Bedingungen neu ausgelegt. Emanzipation, das soll hier heißen, nicht dermaßen regiert zu werden (vgl. Foucault 1992, S. 12). Die Texte suchen dabei Befreiungs- und Widerstandspotenziale angesichts aktueller, gesellschaftlicher Backlashs auf, die vor allem die kritischen Wissenschaften wie Gender und Queer Studies, Postcolonial Studies, Klimawissenschaften und andere treffen. Die Autor*innen suchen in ihren Analysen die Gesellschaft von Figuren und Protagonist*innen, die Hoffnung auf Zusammenhalt, Solidarität und vielfältige mediale Existenzweisen machen.

Die aktuellen Entwicklungen und der gesellschaftliche Backlash machen es umso dringlicher, nicht nur im medial-subversiven Untergrund, sondern auch in populären Medien emanzipative Potenziale aufzuspüren. Denn gerade rechte Gewalt agiert gegen öffentlich sichtbare Personen, die als anders und abweichend markiert werden. Digitale Gewalt und Misogynie (Manne 2024) wirken in hohem Maße durch das Zum-Verstummen-Bringen von medialen Akteur*innen wie Journalist*innen, Content Creator*innen, Politiker*innen und Wissenschaftler*innen.

Dem entgegen scheinen die emanzipativen Potenziale in den Texten dieser Ausgabe an medialen Figuren, ihren Ästhetiken, Historien und Narrationen ebenso auf wie an konkreten (nicht-)fiktionalen Protagonist*innen. Sie umfassen die klassisch feministisch angeeignete Figur der Hexe, queerfeministische YouTuberinnen, aber auch Menstruationsaktivist*innen, fiktionale männlichkeitskritische Fußballtrainer und polyamouröse Figurenkonstellationen sowie eine medienhistorische Kritik von Assistenztechnologien anhand der ‚Geldautomatin‘.

Diese mediale Figuren können emanzipative Potenziale aufscheinen lassen, uns Wissen vermitteln und Beziehungen unterhalten. Personifikationen können aber auch die Konzentration von Macht und Herrschaft in einer demokratiefeindlichen gesellschaftlichen Entwicklung darstellen. So erinnert uns Brian Massumi an die Personalisierung der Macht als ein wesentliches Kennzeichen des Faschismus. Massumi, der in The Personality of Power (2025) eine affekttheoretische Lesart vom Persönlichkeitskult vorschlägt, geht zurück zu den klassischen Axiomen der Faschismustheorie, um das Phänomen Trump zu verstehen. Souveränismus, ‚starke‘ Männer in der Politik, die sich über Wahrheitswert und Gesetze hinwegsetzen, sind über Trump hinaus international ein Zeichen unserer Zeit geworden. Macht versteht Massumi wesentlich als Herrschen über Potenziale, eine Affektpolitik der Persönlichkeit, die inkohärent und widersprüchlich verfährt und nicht nur trotz, sondern gerade deswegen Affekte auf sich vereinen kann. Die Amplifikation der Potenziale, die diese Personen beherrschen, korreliert sehr gut mit den Affektregimen der Sozialen Medien.

Der von Massumi beschriebenen Personifikation der Macht stellen die Autor*innen dieser Ausgabe widerständige, solidarische und eigensinnige Medienfiguren entgegen, die in ihrer Vielheit versuchen, auch im Alltag Mikropolitiken der Emanzipation – einer medialen Emanzipation – zu praktizieren. Sie helfen, die Aufladung von Personen und ihr Branding kritisch zu sehen, selbst wenn sie in den Gegebenheiten sozialer Medien verfangen sind. Wissen, lernen und verlernen spielen also eine wichtige Rolle für die Autor*innen in dieser Ausgabe. Aber auch Freude, Humor und Begehren können emanzipative Potenziale auslösen. In diesem Sinne: Viel Vergnügen beim Lesen!

Foucault, Michel. 1992. Was ist Kritik? Berlin: Merve.

Guattari, Félix. 2011. Die Couch des Armen. Die Kinotexte in der Diskussion. Berlin: b_books.

Manne, Kate. 2024. Down Girl. Die Logik der Misogynie. Berlin: Suhrkamp.

Massumi, Brian. 2025. The Personality of Power. A Theory of Fascism for Anti-fascist Life. Durham: Duke University Press.

Zu den Beiträgen

Max Königshofen fragt ‚Does it get better?‘: Digitale queerfeministische Bildung mit Philosophy Tube und schlägt vor, Abigail Thorns Kanal Philosophy Tube als ein eben solches Bildungsformat zu verstehen. Dessen Potenzial liege darin, ein Gegenprogramm zu Antifeminismus und Transfeindlichkeit zu entwerfen und rechter Geschlechterpolitik als ideologischem Kitt von unterschiedlichsten reaktionären bis rechten Kräften etwas entgegenzusetzen. Akteur*innen wie Thorn und weitere queere (und) trans Personen leisteten damit eine Form der Bildungsarbeit, die über akademische wie biografische Bezüge eine Dringlichkeit artikuliere, die die Akteur*innen selbst jedoch in der Sichtbarkeit dieser medialen Öffentlichkeit auch einem größeren Risiko transfeindlicher und antifeministischer Gewalt aussetzt.

Ylva Staudigels Beitrag Von der Geldautomatin zur Sprachassistentin: Zur weiblichen Codierung von Medientechniken in den 1970er Jahren und der Gegenwart widmet sich weniger einem schon aufscheinenden emanzipativem Potenzial ihres Gegenstands als vielmehr einer Genealogie zu kritisierender Geschlechterverhältnisse. Staudigel vollzieht medienhistorisch anhand von Werbeversprechen nach, dass zeitgenössische digitale Sprachassistenzen wie Siri in ihrer konnotierten Weiblichkeit an Figuration weiblicher Servilität anschließen, die schon für die Vermarktung von Geldautomaten produktiv gemacht wurden. Staudigel schreibt entsprechend konsequent von der ‚Geldautomatin‘ und fordert eine auch technologische Emanzipation aus den sich weiter reproduzierenden patriarchalen Geschlechterverhältnissen.

Julia Fischer wiederum erprobt in Magische Internetpraktiken monströser Körper – Potenziale einer (ver)störenden Kompliz*innenschaft von Cyborgs und ‚Hexen‘ einen konzeptionellen Zugriff auf digitale Technologien, der hinsichtlich Geschlechter- und weiterer Differenzverhältnisse hoffnungsvoller ist. Indem Fischer in Anschluss an Donna Haraway die Figuren der Cyborg und der Hexe in Dialog und damit die (vergeschlechtlichten) monströsen Körper in die Differenz von Natur-Technik-Verhältnissen einbringt, könne (Hexen-)Magie in Kompliz*innenschaft mit der Cyborg eine nicht-dualistische Perspektive auf digitale Technologien eröffnen.

Auch Johanna Böther stellt Formen von nicht-dyadischen Beziehungen analytisch in den Mittelpunkt: Der Beitrag ‚We are not competitors, and you are not split.‘ – Polyamorie als Herausforderung von Heteronormativität und kolonialer Rassifizierung im Film 3 On a Bed fragt nach einer filmischen Ästhetik von Polyamorie. Der bengalische Kurzfilm über die (Liebes-)Beziehungen dreier Studierender miteinander breche in der Inszenierung nicht nur mit Mononormativität, sondern kommentiere gerade darüber auch koloniale Rassifizierungen und heteronormative Ordnungen kritisch. Emanzipation realisiere sich hier in der Möglichkeit einer in Zugewandtheit gemeinsam zu gestaltenden Zukunft.

Xenia Waporidis stellt in Period Power: Queerfeministische und dekoloniale Perspektiven auf Menstruation internationale Aktivist*innen in den Fokus, die sich in unterschiedlichen medialen und künstlerischen Formen gegen Menstruationstabus, Periodenarmut, Scham und Ekel diesbezüglich engagieren. Mit der Analyse des Dokumentarfilms Long Line of Ladies (USA 2022) argumentiert Waporidis sowohl in Bezug auf die darin dokumentierten Indigenen Menstruationsbräuche als auch auf die kollaborative Filmpraxis, dass Menstruation nicht individualisierte Scham, sondern gemeinsame politische Praxis auslösen sollte.

In dem gemeinsamen Gespräch Strukturelle ‚Behaarlichkeiten‘ – mit Ted Lasso Männlichkeit verlernen? diskutieren Alina Adrian, Julia Bee, Maximiliane Brand, Sarah Horn, Judith Kirch und Stefan Sulzenbacher das Emanzipationspotenzial dieser Apple TV+ Produktion. Der titelgebende Protagonist dieser Serie repräsentiert Formen von Männlichkeit, die konventionelle Geschlechterperformances im kommerziellen Männerfußball und im Sportfilm herausfordern. Und während die Serie individuelle Traumata, Erfahrungen von Rassismus und den Druck auf nicht-heterosexuelle Profisportler zentral thematisiert, bleibt die Frage nach der strukturellen Veränderung dieser mit Männlichkeit verbundenen Machtverhältnisse.

Anna Sacher ergänzt die sechs Beiträge mit ihrer Rezension der 2025 erschienen Dissertation Queering Home: Medienpraktiken als Infrastrukturen der Sorge von Stefan Schweigler, die zeigt, wie diese Praktiken wichtige Einsichten für care-ethisch orientierte Theoriebildungen bereithalten.

Julia Bee und Sarah Horn

‚Does it get better?‘: Digitale queerfeministische Bildung mit Philosophy Tube

Max Königshofen

Der Artikel untersucht den Kanal Philosophy Tube von YouTuberin Abigail Thorn und stellt die These auf, dass dieser als Format digitaler queerfemi-nistischer Bildung verstanden werden kann. Unter Bezugnahme auf den Begriff der digitalen politischen Bildung (Bee 2023) wird digitale queer-feministische Bildung als Gegenprogramm zu einem von Antifeminismus, Transfeindlichkeit und Antigenderismus geeinten Digitalen Faschismus (vgl. Fielitz/Marcks 2020) vorgeschlagen, um den „symbolic glue“ (Kováts/Põim 2015) rechter Geschlechterpolitik zu lösen. Im Falle von Philosophy Tube und ähnlichen Kanälen wird diese entscheidende Bildungsarbeit nicht von staat-licher oder institutioneller Seite aus durchgeführt, sondern es sind einzelne, oft selbst queere und trans Akteur*innen, die durch die Einbeziehung ihrer persönlichen Biografien einerseits ihren Formaten eine persönliche Ebene verleihen und eine starke Publikumsbindung aufbauen, durch ihre prominente Präsenz jedoch auch umso mehr transfeindlicher und antifeministischer digitaler Gewalt ausgesetzt sind.

Von der Geldautomatin zur Sprachassistentin: Zur weiblichen Kodierung von Medientechniken in den 1970er Jahren und der Gegenwart

Ylva Staudigel

Der Artikel betrachtet die weibliche Codierung von Medientechniken mittels diskursanalytischer und genealogischer Ansätze als über Jahrzehnte hinweg konstruierte Norm. Am Beispiel von Geldautomaten der 70er und 80er Jahre und dem Sprachassistenten Siri wird über Werbung und Marketing als Zugangspunkt rekonstruiert, dass die weibliche Codierung auf spezifischen kulturellen Annahmen und ökonomischen Strategien beruht und eine problematisierungsbedürftige Assoziation von Weiblichkeit mit Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft und Dienstbarkeit (re)produziert.

Magische Internetpraktiken monströser Körper – Potenziale einer (ver)störenden Kompliz*innenschaft von Cyborgs und Hexen

Julia Fischer

Was würde passieren, wenn sich die Haraway’sche Figur der Cyborg mit einer feministisch gelesenen Figur der Hexe verbünden würde? Dieser keineswegs unschuldigen Frage widmet sich der folgende Beitrag. Im methodischen Gespräch zwischen den Figuren wird einerseits auf den Begriff der Monstrosität und andererseits auf dualistische Differenzziehungen innerhalb von Natur-Technikverhältnissen fokussiert. Dabei ist es gerade die (Hexen)Magie, so das Argument, welche eine andere Perspektive auf Technologien ermöglicht.

„We are not competitors, and you are not split.“ Polyamorie als Herausforderung von Heteronormativität und kolonialer Rassifizierung im Film 3 On A Bed

Johanna Böther

Im bengalischen Kurzfilm 3 On A Bed (IN 2012) von Rajdeep Paul und Sarmistha Maiti führt die junge Padmini sowohl mit Kapil als auch mit dessen bestem Freund Debdutta eine romantisch-sexuelle Beziehung. Der Artikel untersucht die polyamore Beziehung der drei Protagonist:innen mithilfe von Mimi Schippers’ Konzept des polyqueer homosocial bond und kolonialismuskritischen Theorien und zeigt, dass die Beziehung nicht nur Mononormativität, sondern gerade durch den Bruch mit Mononormativität auch Heteronormativität und koloniale Rassifizierung herausfordert.

Period Power: Queerfeministische und dekoloniale Perspektiven auf Menstruation

Xenia Waporidis

Dieser Text ist aus der Sicht einer Menstruierenden verfasst und analysiert global bestehende Menstruationstabus. Der Artikel befasst sich mit Menstruation aus queerfeministischer Perspektive als soziales, politisches und kulturelles Machtfeld. Anhand historischer Narrative, globaler Praktiken sowie medialer und aktivistischer Repräsentationen wird gezeigt, wie menstruierende Körper diszipliniert, unsichtbar gemacht oder stigmatisiert werden. Der Fokus wird anschließend auf den Dokumentarfilm Long Line of Ladies (2022) gelegt, um die kontrastreiche Indigene Perspektive auf Menstruation darzulegen.

Strukturelle ‚Behaarlichkeiten‘ – mit Ted Lasso Männlichkeit verlernen?

Ein Gespräch zwischen Alina Adrian, Julia Bee, Maximiliane Brand, Sarah Horn, Judith Kirch und Stefan Sulzenbacher

Ted Lasso kommt als American Football-Coach ohne jede Ahnung von Fußball nach England, um dort den fiktionalen Premier League-Verein AFC Richmond zu trainieren. Doch an erster Stelle steht bei Lasso nicht der sportliche Erfolg, sondern die Verwirklichung eines Glaubens jedes Einzelnen an sich selbst und das Team. Lasso widmet sich empathisch, fürsorgend und hingebungsvoll sowohl seinen Aufgaben als auch seinen Mitmenschen. Diese Doppelfigur als Jesus und Life Coach ist einerseits Satire des American Way of Life, andererseits stellt es Werte außerhalb männlicher Hegemonie und Konkurrenz in den Fokus. Ted Lasso bietet daher – das wollen wir diskutieren – im von Kampf und Konkurrenz geprägten Feld des Fußballs ein alternatives Modell von Männlichkeit und Beziehungen an.

Rezension | Stefan Schweigler: Queering Home. Medienpraktiken als Infrastrukturen der Sorge.

Anna Sacher