Die „Judensau“ darf bleiben: Der Bundesgerichtshof hat im vergangenen Monat entschieden, dass die antijüdische Schmähskulptur an der Stadtkirche Wittenberg nicht entfernt werden muss. In dem Urteil heißt es, sie sei „zwar beleidigend, doch die Gemeinde habe sich ausreichend distanziert.“
Aber geht das überhaupt? Ausreichende Distanzierung von einem in Stein gemeißelten Relief aus dem 13. Jahrhundert, das bis heute Menschen jüdischen Glaubens beleidigt, sie als „Saujuden“ darstellt und bisher nur mit einer leicht zu übersehenden, theologisch überholten Gedenkplatte aus den 1980er Jahren sowie einer nebenstehenden Infotafel versehen ist? Und das ausgerechnet an der Kirche, die als Wiege der Reformation gilt, wo auch Martin Luther predigte? Im Jahr 2022 kommt hier noch immer der Antisemitismus zum Ausdruck, den auch Luther in Schriften wie „Von den Juden und ihren Lügen“ oder „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“, die direkt Bezug auf die Skulptur nimmt, verbreitete. Der Judenhass war jahrhundertelang Teil der lutherischen Verkündigung, sodass sich auch die evangelische Kirche „an der physischen Auslöschung des jüdischen Volkes schuldig gemacht“ (Rheinischer Synodalbeschluss von 1980) hat, weshalb etwa Andreas Pangritz in Luther einen „Kronzeugen des Antisemitismus“ sieht.
Hochrangige Protestant*innen hatten sich schon länger für eine Abnahme der „Judensau“ ausgesprochen, darunter die ehemalige Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Irmgard Schwaetzer, und Friedrich Kramer, Landesbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, der feststellte: „Eine Beleidigung bleibt eine Beleidigung, ob man sie kommentiert oder nicht.“ In Wittenberg, wo die dunkle Seite des Reformators nicht unbedingt das Lieblingsthema darstellt, ist auch die Diskussion um das Relief vielen ein Dorn im Auge. Die evangelische Stadtkirchengemeinde in Wittenberg argumentiert, die „Judensau“ müsse bleiben, denn sie sei „ein Stachel im Fleisch der christlichen Geschichte. Sie halte die Erinnerung an den mittelalterlichen Antijudaismus aufrecht. […] Man sei kein Freund der Cancel Culture.“
Auch der Rechtspopulismus hat das Thema längst für sich vereinnahmt. Die AfD Wittenberg erreicht viele Einheimische mit dem Vorwurf, „Weltversteher“ würden von außen in die Lutherstadt kommen, um ihnen zu sagen, was sie zu tun hätten; dabei sei das Relief gar nicht mehr das Problem, da der heutige Antisemitismus doch von den Muslimen ausgehe – eine Behauptung, die angesichts der Tatsache, dass 9 von 10 antisemitischen Straftaten in Deutschland einen rechten bzw. rechtsextremistischen Hintergrund haben, natürlich wenig haltbar ist.
Niklas Ottenbach vom Deutschlandfunk hat die Art und Weise, wie die Debatte geführt wird und vor allem die Gemeinde argumentiert, scharf kritisiert: „Das kann man so sehen, wenn es einem nur um sich selbst geht. Im Grunde genommen ist das Belassen der „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirchenfassade eine sehr selbstbezogene Geschichtsbetrachtung, die zwar die eigenen Untaten thematisiert wissen will, aber die Wirkung auf die, die damit beleidigten werden, ausblendet.“ Nach derselben Argumentation hätte man, so Ottenbach weiter, ja auch Adolf-Hitler-Plätze nach dem Krieg nicht umbenennen müssen – aber so funktioniere es nicht: „Geschichte entwickelt sich weiter, deshalb darf sich auch das Stadtbild weiterentwickeln.“
Und tatsächlich: Geschichte und Erinnerung sind lebendig und entwickeln sich stets weiter. Erinnerung an das Vergangene ist somit notwendig, um die Zukunft zu einem besseren und gerechteren Ort für alle zu gestalten. Das erinnerungspolitische Erinnern und Gedenken würdigt die Perspektive der Personen, die diskriminiert, ausgegrenzt, verfolgt und ermordet wurden – kurzum: derer, die es konkret beleidigend betrifft. Ausgerechnet diese Perspektive ist jedoch in der Diskussion in Wittenberg nur unzureichend berücksichtigt worden.
Stephanie Lerke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Evangelische Theologie der Technischen Universität Dortmund und Lehrbeauftragte am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn, Jan Christian Pinsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der Universität Paderborn und Lehrbeauftragter am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
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