In der antiken Tradition des Nachdenkens über Dialektik, die von Hegel revitalisiert worden und systematisch in seinem philosophischen Werk angewendet worden ist, ist die Dialektik eng mit der These verknüpft, dass es einige seltsame Begriffe (die Ideen) gibt, die unser Leben und unser Denken leiten und begründen, z.B. das Gute, das Gerechte, das Wahre. Wieso sind sie seltsam? Weil sich Fragen und Probleme (Widersprüche) ergeben, wenn wir über sie nachdenken. Zum Beispiel nehmen wir (wie es Parmenides im homonymen Platonischen Dialog tut) die Idee des Einen und betrachten Sokrates: Sokrates ist eins (er ist ein Mensch mit einem Namen, einem Körper) und ist zugleich aber nicht eins (sein Körper besteht aus vielen Teilen, außerdem vollzieht er viele Handlungen, hatte viele verschiedene Eigenschaften in den vielen verschiedenen Stadien seines Lebens). D.h. Einheit und Vielheit scheinen ineinander überzugehen, wenn sie an dem konkreten Fall des Sokrates betrachtet werden.
Daher stellt sich die Frage: Sollen wir diese Begriffe (Einheit, Vielheit, Gerechtigkeit usw.) beseitigen, und z.B. einfach davon ausgehen, dass es sie nicht gibt, und dass sie für uns nicht interessant sind? Wie Parmenides im homonymen Platonischen Dialog sagt, können wir das nicht tun, weil diese Begriffe uns wieder einfangen: Sie bilden die Grundlage unseres Miteinander-Seins und Sprechens. Sobald wir den Mund aufmachen, um etwas zu sagen, setzen wir sie voraus und werden von ihnen begleitet. Betrachten wir z.B. den Begriff der Wahrheit. Nehmen wir an, dass wir sagen:
„Die Wahrheit existiert nicht“.
Wie Aristoteles im IV. Buch der Metaphysik schreibt, wenn wir behaupten, dass Wahrheit nicht existiert, dann erheben wir damit den Anspruch, dass das, was wir sagen, wahr ist. Obwohl wir versuchen, die Wahrheit zu beseitigen, fängt sie uns wieder ein. Oder betrachten wir den Begriff der Existenz. Nehmen wir an, dass jemand behauptet:
„Nichts existiert“
Wenn wir sagen: „nichts existiert“ dann muss es doch etwas geben (zumindest muss es den Satz, den wir äußern, geben und wir müssen als diejenigen, die den Satz äußern, existieren, um diesen Satz zu äußern).
Wie sollen wir dann mit diesen Grundbegriffen/Ideen umgehen? Die Tradition der Dialektik sagt uns, dass wir den Widerspruch als Instrument auffassen sollen, um die Wahrheit über die Ideen zu finden und um über die Ideen zu denken und all das zu finden, was es über eine Idee zu sagen gibt. Der Widerspruch (die krankheitserregende Natur der Idee) wird zur Methode des Umgangs mit der Idee (die Medizin).
Dialektik als der methodisch und programmatisch eingesetzter Widerspruch hilft uns daher, die Wahrheit über die Grundbegriffe und Ideen zu finden, die unser Leben und unser Handeln leiten — d.h. auch, sie hilft uns, Streitigkeiten zu lösen, die wir mit den Menschen haben, mit denen wir sprechen und leben und die aufgrund der Unklarheit bezüglich dieser Grundbedingungen unserer Existenz entstehen. Dialektik hilft uns, um philosophisch zu arbeiten, d.h. um nach der Natur der Grundbegriffe wie das Gute, die Freiheit, die Gerechtigkeit, die Wahrheit zu fragen, Texte darüber zu schreiben, Vorträge darüber zu halten. Da die Grundbegriffe und Ideen sehr mächtig sind, da sie die Grundlage unseres Denkens und Lebens und unsere Beweggründe ausmachen, ist die Kenntnis über sie die Macht, die wir haben, um nicht von ihnen blind geführt zu werden, sondern um sie bewusst einzusetzen, wenn wir sie brauchen. Dialektik hilft uns dazu.
PD Dr. Elena Ficara ist Privatdozentin für Philosophie und Bildung an der Universität Paderborn.
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