Von der Grundstimmung als philosophischer Ausgangspunkt

In der Philosophiegeschichte gab es immer wieder Philosoph*innen, welche Grundstimmungen des Lebens als Anstoß für ihr philosophisches Lebenswerk genommen haben. So ist es in Martin Heideggers Sein und Zeit die Angst – oder anders gesagt: das Sein zum Tode – welches dem Menschen das eigentliche Sein in seiner Sinnfrage eröffnet. Wird Sein und Zeiteinerseits für eine der „kühnsten“ und „tiefsinnigsten“ Betrachtungen des Todes gelobt,[i] so ist Heideggers bedeutendes und zugleich umstrittenes Denken andererseits dafür kritisiert worden, dass ausgerechnet die Grundbefindlichkeit der Angst von ihm als dasjenige betrachtet wird, welches das Dasein des Menschen zu erschließen vermag.[ii]

Dieses Bild lässt sich ähnlich in der Begegnung der heideggerischen Philosophie mit dem ostasiatischen Denken finden, dem zuteil eine faszinierende und rätselhafte Korrelation zugesprochen wird.[iii] Zumindest in der japanischen Philosophie der Kyōto-Schule, welche die Impulse westlicher Philosophie aufnimmt und mit dem eigenen, teils buddhistisch geprägten Denken verbindet,[iv] findet Heideggers Sein zum Tode im Allgemeinen eine ausgesprochene Sympathie. Der Begründer der japanischen Kyōto-Schule, Kitarō Nishida, hingegen betrachtete den Fokus auf die Angst in Heideggers Sein und Zeit äußerst kritisch.[v] Doch auch bei Nishida lässt sich eine Art „Grundstimmung“ finden, die sein Schüler Keiji Nishitani in der „tiefen Trauer (jap. ‚hiai‘ [悲哀]) des menschlichen Lebens“[vi] beschreibt. 

Der Philosoph Ryōsuke Ōhashi betont in einem Beitrag zum Symposium anlässlich der Städtepartnerschaftsbesiegelung zwischen Meßkirch und Unoke – den Geburtsorten Heideggers und Nishidas – die Bedeutung der Grundstimmungen darin, dass „[m]it und in diesen Grundstimmungen […] das Philosophieren [beginnt]“. Er sieht eine Wesensverwandtschaft zwischen der Trauer des Lebens als „Ausdruck für das anfängliche, jedem Menschen innenwohnende Bewußtsein der Endlichkeit jeglichen Lebewesens“ zu dem aristotelischen „Erstaunen“ und Heideggers „Angst“ als „Anfang des Philosophierens“.[vii] Trotz aller prinzipiellen Unvergleichbarkeit dieser Erfahrungswelten scheint es, dass Heidegger und Nishida beide ihre Philosophie von einer zentralen Grunderfahrung der Endlichkeit aufbauen, sich jedoch auf ein unterschiedliches Denken und Erfahren der Endlichkeit beziehen. 

Die Grundstimmung der Angst bei Heidegger hat einen bedrohlichen und radikaleren Charakter. Sie wirft den Menschen auf sich selbst zurück und rüttelt ihn auf. Sie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass das Dasein sich angesichts der Endlichkeit „Unzuhause“ in seinem In-der-Welt-sein befindet. Der Tod ist das noch Ausstehende, was das Dasein für seine Zukunft antizipiert und gerade deshalb zum entschlossenen und freien Selbstentwurf des Lebens aufruft.

Bei Nishida hingegen ist der Tod und Endlichkeit nicht allein auf den biologischen Tod bezogen. Er meint nicht eine zukünftige Grenze des Selbst und seiner Erfahrungswelt, sondern die Einsicht in die Nichtigkeit des Selbst im Hier und Jetzt. Leben und Tod bilden eine widersprüchlich-selbstidentische Einheit.[viii] Deshalb findet eine Umwendung von der anfänglichen Traurigkeit zur mitfühlenden, andächtigen Stille im Gewahren der Nichtigkeit aller Dinge statt. Diese „veranlasst uns dazu, unsere von der Selbstliebe beherrschte Lebenseinstellung umschlagen zu lassen“[ix], sie bezieht sich unmittelbar in Mitgefühl auf alle Wesen und Dinge.

Angst und Traurigkeit eröffnen bei Heidegger und Nishida in ihrer gemeinsamen Grunderfahrung der Endlichkeit eine existenzielle Sichtweise auf das Leben, sodass sie im Wechselspiel einer Ars moriendi und Ars vivendi zu Ausgangspunkten ihrer Philosophie werden.


[i] Buber, Martin, Das Problem des Menschen. Heidelberg: Lambert Schneider 1954, 95.

[ii] Vgl. z. B. Bollnows berühmte Kritik in seinem Werk „Das Wesen der Stimmungen“.

[iii] Davis, Bret W., „Heidegger´s Orientations: The Step Back on the Way to Dialogue with the East“. In: Alfred Denker/Holger Zaborowski/Ryōsuke Ōhashi et. al. (Hrsg.), Heidegger und das ostasiatische Denken. Freiburg/München: Karl Alber Verlag 2013, 153–180, 153.

[iv] Dies betrifft die mit der Meiji-Zeit (1868-1912) zugänglich gewordene europäische Philosophie und christliches Denken sowie die traditionellen japanischen Strömungen des Konfuzianismus, Shintoismus und Buddhismus.

[v] In der Übersetzung nach Rigsby sagte Nishida: „Heidegger is not worth your time“ (Rigsby, Curtis A, „Nishida on Heidegger“. In: Continental Philosophy Review 42 2010, 511–553, 512). „Heidegger […] focuses only on such themes as ‚Angst‘ and ‚death‘, and although he often relies upon Pascal and Kirkegaard, he does not recognize that which is indispensible and decisive, namely, God“ (ebd., 526). 

[vi] Nishitani, Keiji, „Mein philosophischer Ausgangspunkt“. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 46 1992, 545–556, 546.

[vii] Ōhashi, Ryōsuke, „Kitarō Nishidas Heimat und seine Philosophie.“ In: Stadt Meßkirch (Hrsg.), Partnerschaftsfeier Unoke – Meßkirch. Symposium Heimat der Philosophie. Reden und Vorträge am 3. und 4. Mai 1985 in Meßkirch. Meßkirch 1985, 61–71, 68.

[viii] Vgl. Nishidas Aufsatz „Ortlogik und religiöse Weltanschauung“ (Bashoteki ronri to shūkyōteki sekaikan 場所的論理と宗教的世界観).

[ix] Mine, Hideki, „Die Traurigkeit des Seins und Liebe des Nichts: Die Grundstimmung auf dem Standpunkt der selbst-gewahren Erfahrung Nishidas“. In: Hōrin. Vergleichende Studien zur japanische Kultur 19 2016, 78–95, 94. Traurigkeit findet sich nicht nur in hiai (悲哀), sondern auch mit kanashimi (かなしみ) wieder, welches neben der Trauer „noch den Sinn der Liebe enthält“ (ebd.)

Sarah Lebock ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Paderborner Institut für Islamische Theologie und Geschäftsführerin des ZeKK.

#Grundstimmung #Traurigkeit #Angst #Leben