Für einen jüdischen Weisen des 15. Jahrhunderts, Isaac Arama (1420-1494) war das Konzept von Shalom im Judentum mit seiner Vielzahl von Bedeutungen eine Art Stabilisator (Kaminski): „Shalom (…) ist das Element in der Natur, das die Bestandteile aller Dinge zusammenhält und stabilisiert, so dass sie ihre essentielle Qualität {ihre Integrität} bewahren.Das bedeutet auch, dass seine Abwesenheit in der Natur Spaltung und Degeneration zur Folge hat.“
Shalom ist aber nicht nur ein stabiler Zustand, es ist das formende Element, das eine lebenswichtige Funktion erfüllt, wie die Luft für das Leben auf der Erde oder die DNA für die Übertragung der Erbmerkmale, die Menschen und die meisten Organismen auszeichnen. Es ist ein Element, das eine Tendenz zum Zusammenhalt und zur Einheit garantiert und Konflikte und die Möglichkeit der Zerstörung vermeidet oder abschwächt.
Der Begriff Schalom hat die folgende Bedeutung (gemeinsam mit Salam aus dem Arabischen):
1. Vollständigkeit, Solidität, Wohlergehen
2. Sicherheit, Unversehrtheit (im Körper)
3. Wohlfahrt, Gesundheit, Wohlstand
4. Frieden, Ruhe, Zufriedenheit,
5. Frieden, Freundschaft
a. der menschlichen Beziehungen
b. mit Gott besonders in der Bundesbeziehung
6. Frieden (vom Krieg)
7. Frieden (als Adjektiv)
8. Zustand. Begrüßung. Shalom Alechem
Vom abstraktesten Konzept bis zur banalen Begrüßung erscheint der Zustand von Schalom als ein Ideal, das keineswegs offensichtlich, sondern notwendig, erwünscht, zugleich erreichbar und utopisch ist. Es ist eine Herausforderung für eine Tradition, die glaubt, dass der Mensch das Göttliche und das Bösartige (ietzer hara) in sich trägt und dass sein Charakter durch den Kampf zwischen diesen Kräften bestimmt wird. Eine Binarität, die die Koexistenz des Bösen und dessen Wechsel mit Perioden des Wohlbefindens erklärt.
Am Ende eines der wichtigsten Gebete der jüdischen Liturgie, des Kaddisch, heißt es „Ose schalom bimromav…“, (Er, der in seinem hohen Himmel Frieden stiftet. Job 25,2)
Das Gebet schreibt Gott, unter seinen unendlichen Fähigkeiten, die Fähigkeit zu, den Himmel zu befrieden. Das Interessante dabei ist, dass das Gebet davon ausgeht, dass es im Himmel auch Konflikte, Spannungen, vielleicht sogar Krieg gibt. Vielleicht spiegelt die Erde einen Schatten der himmlischen Konflikte wider? Und wenn ja, wie würden diese himmlischen Konflikte aussehen? Oder ist es andersherum? Spiegelt der Himmel die Spannungen wider, die auf der Erde herrschen, denn schließlich wurde der Mensch so erschaffen, wie er erschaffen wurde?
Das Gebet appelliert an ein göttliches Eingreifen, um Frieden zu erreichen, an eine Garantie von demjenigen, der mit seinem Wort erschafft und die Fäden dessen zieht, was in der Welt geschieht. Das Gebet wird mit einem Appell fortgesetzt, der zwar exklusiv ist, aber auch Raum für Zweideutiges lässt: … möge er Frieden über uns und über das ganze Volk Israel bringen, und wir sagen Amen. In der traditioneller Liturgie ist dieses uns, jede einzelne jüdische Gemeinschaft. Heute, aber, interpretieren wir, dass dieses uns die gesamte Menschheit ist. Jeder Krieg und jeder Friedenszustand beeinflusst die ganze Welt. Diese Neuinterpretation eines alten Gebetes zeigt, dass wenn Frieden herrscht, dieser nicht exklusiv ist. Die Idee des Friedens des Himmels projiziert sich auf uns auf der Erde, auf uns als universelles Kollektiv und dann auch auf Israel.
In diesen Zeiten des Krieges brauchen wir dringend ein göttliches Eingreifen. Solange es keine Anzeichen dafür gibt, bete ich mit einer naiven Hoffnung, dass es den Menschen, die die Fäden über Leben und Tod in der Hand halten, gelingen wird, den dringenden Ruf nach Schalom in all seinen Bedeutungen zu akzeptieren.
Liliana Furmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Pnina Navè Levinson Seminar für Jüdische Studien an der Universität Paderborn.
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