Die Missbrauchskrise erschüttert nicht nur die Katholische Kirche in ihren Grundfesten. Sie befördert auch ein bereits stark verbreitetes säkulares Narrativ: Religion sei kein Segen für die Menschheit, sondern ein Fluch. Leider werden die kirchlichen Strukturen, die sexuellen Missbrauch und dessen Vertuschung in einem erschreckenden Ausmaß ermöglicht haben, tatsächlich auch religiös legitimiert. Beispielsweise hat die besondere Stellung des Priesters in der Gemeinde als Repräsentant Christi eine gewisse Vorstellung von Unantastbarkeit und Unfehlbarkeit zur Folge, welche ganze Gemeinden dazu brachte, Offensichtliches zu übersehen, Täter zu decken und Opfer einzuschüchtern.
Um bei der Aufarbeitung dieser Krise nicht an der Oberfläche zu verharren, ist es unerlässlich, grundlegenden Strukturen des Machtmissbrauchs in Religionen zu analysieren und diese Strukturen von ähnlich beschaffenen gesellschaftlichen Strukturen abzugrenzen. Hier kann die komparativ-theologische Methode einen entscheidenden Beitrag liefern, indem die jeweiligen religionsspezifischen Strukturen ausfindig gemacht werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen missbrauchsbefördernde Elemente in unterschiedlichen religiösen Traditionen verglichen werden. Welche theologischen Denkmuster führen dazu, dass Menschen nicht in der Lage sind, sich gegen Missbrauch zu wehren, diesen eventuell gar nicht mehr als etwas Unerlaubtes oder Unmoralisches betrachten können? Warum sind Verantwortliche manchmal fest davon überzeugt, dass es Gottes Willen entspricht, Missbrauch zu vertuschen, um die Institution als Ganze zu schützen?
In fast allen Religionen sowie in einigen philosophischen Traditionen gibt es ein Phänomen, dass Karl Popper die Zuschreibung von privilegierter Erkenntnis nannte. Manche Personen hätten einfach einen „besseren Draht“ zu Gott oder dem Göttlichen. Dies können historische Personen, Religionsstifter oder Propheten, aber auch heute wirkende Religionsoberhäupter oder spirituelle Führungspersönlichkeiten sein: Päpste, Kalifen, die Zwölf Imame, Ältestenräte, Tirthankaras oder Bodhisattvas. Die Theorie privilegierter Erkenntnis ist an sich unproblematisch, da offensichtlich nicht jeder Mensch in jedem Bereich die gleichen Fähigkeiten besitzt. Fast jeder gläubige Mensch hat auch auf seinem spirituellen Weg andere Menschen kennengelernt, die genau deshalb einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben: Da hat jemand etwas begriffen, von dem man selbst noch weit entfernt ist, was man vielleicht noch nicht einmal in Worte fassen kann.
Ein Glaubensweg ist kein theoretischer Weg, er besteht nicht aus Lernen von Informationen, dem Studieren von theologischen Argumenten, es ist ein Weg der Charakterformung, der darauf angewiesen ist, dass andere Personen als Orientierung für die Richtung einer solchen Entwicklung dienen. Meist sind dies charismatische Persönlichkeiten, manchmal aber auch Personen, denen von der Institution selbst ein besonderer Status zugeschrieben wird, ob durch (pseudo-)demokratische Legitimation, durch Abstammung, durch Ordination oder Weihe. Aufgrund ihrer privilegierten Erkenntnisfähigkeit müssen sie sich dann nicht mehr gegenüber dem „gemeinen Volk“ rechtfertigen. Oder es traut sich niemand mehr, die Integrität und Glaubwürdigkeit dieser wichtigen Person, die vielen Menschen Halt und Orientierung gibt, infrage zu stellen.
Auch wenn es religionsspezifische Strukturen gibt, die Missbrauch befördern, glaube ich, dass es ebenso religionsspezifische Strukturen gibt, die diesem entgegenwirken können. Sowohl im abendländischen Monotheismus als auch in der östlichen Lehre der universalen Nicht-Zweiheit liegt ein großes ideologiekritisches Potenzial: Kein Mensch soll vergöttlicht, keine Lehre absolut gesetzt werden. Auch jede religiöse Erkenntnis bleibt immer vorläufig, man darf an allem zweifeln. Und keine einzelne Person hat eine so hohe spirituelle Autorität, dass sie sich nicht mehr rechtfertigen muss. Vor allem dann, wenn ihr eigenes persönliches Interesse gerade zufällig dem verkündeten Willen des Allmächtigen entspricht.
Vertr.-Prof. Dr. Johannes Grössl ist Vertretungsprofessor für Systematische Theologie an der Universität Paderborn.
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